Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Ziegenchor

Der Ziegenchor

Titel: Der Ziegenchor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
Vom Netzwerk:
nicht eingetroffen, und das Dorf wurde von den Bewohnern auf fast mustergültige und geordnete Weise geräumt.
    Ich wollte gerade den Abhang des Hügels hinunterrennen, um mich dem Flüchtlingszug anzuschließen, als mir Kallikrates die Hand auf die Schulter legte und mich zu Boden drückte. Ich begriff nicht, was das sollte, und wehrte mich, doch mein Vetter hielt mir mit der anderen Hand den Mund zu und deutete nach vorn. Direkt hinter dem Dorf erhob sich eine Staubwolke.
    »Sei still!« zischte er mir ins Ohr. »Vielleicht hat das nichts zu bedeuten, aber wir sollten lieber noch einen Moment hierbleiben.«
    Ich zog seine Hand beiseite. »Sei doch nicht blöd. Wenn die Dorfbewohner die Staubwolke noch nicht gesehen haben, müssen wir sie warnen!«
    »Jetzt halt endlich die Klappe und bleib gefälligst, wo du bist!« fuhr mich Kallikrates wütend an. »Tu wenigstens dieses eine Mal das, was man dir sagt.«
    Gehorsam kauerte ich mich neben meinen Vetter in den Schatten eines Felsblocks, während die Staubwolke immer näher herankam. Mittlerweile hatten auch die Dorfbewohner sie erblickt, und ihnen behagte ihr Anblick kein bißchen mehr als uns. Einige von ihnen ließen ihre Siebensachen mitten auf der Straße fallen und rannten los, entweder die Straße entlang oder den Hügel hinauf. Andere kehrten zum Dorf um, und wieder andere blieben wie angewurzelt stehen.
    Plötzlich verwandelte sich die Staubwolke in einen Reitertrupp in vollem Galopp. Ich konnte zwar die Farbe der Umhänge nicht erkennen, aber die Helme blitzten in der Sonne, und jeder Reiter war mit zwei Speeren bewaffnet. Sie sahen nicht im entferntesten wie eine der Reitereinheiten aus, die ich in Athen gesehen hatte; dazu gingen sie viel zu geschickt und diszipliniert vor. Unter anderen Umständen wäre es das reinste Vergnügen gewesen, ihnen zuzuschauen.
    Kallikrates zog mich weiter hinter den Felsen zurück, und von dort aus verfolgten wir heimlich das Geschehen. Die Reiterei hatte inzwischen den Rest des Flüchtlingszugs eingeholt und warf die Speere. Die Szene erinnerte stark an eine elitäre Wildschweinjagd, wie man sie im Hügelland erlebt, wenn sich zahllose reiche junge Männer vor die Tore der Stadt begeben, um einen Tag lang Sport zu treiben – mit dem Unterschied, daß es hier keine Hunde oder Netze gab, und anders als bei der Gegenwehr eines Durchschnittswildschweins war der Widerstandsform dieser Beute nichts Belustigendes abzugewinnen. Nachdem die Reiter ihre Speere geworfen hatten, zückten sie die Säbel und zogen sich um die noch Lebenden zusammen. Da mein Tagesbedarf an dieser Form von Unterhaltung bereits gedeckt war, verschwendete ich auf das nun folgende Geschehen keine allzu große Aufmerksamkeit. Ich hatte das seltsame Gefühl, daß ich im Theater saß – wahrscheinlich weil ich das Schauspiel aus großer Entfernung verfolgte – und daß irgendein taktloser Gott dieses geschmacklose Schauspiel nur meinetwegen veranstaltete. Ich wäre am liebsten aufgestanden und hätte ihm gesagt, daß ich ein Komödien- und kein Tragödiendichter sei und mich dieses ganze Spektakel völlig kalt lasse. Außerdem verstoße es gegen sämtliche Konventionen des Theaters, den realen Mord auf die Bühne zu bringen. Zum Schluß hätte ich ihn darauf hingewiesen, daß ich das gleiche Stück bereits vor weniger als zwei Stunden gesehen hätte und es mir schon beim ersten Mal nicht besonders gefallen habe.
    Ich glaube nicht, daß der gesamte Vorfall länger als zehn Minuten dauerte. Außerdem erinnere ich mich noch, wie Kallikrates sagte: »Alles in Ordnung, sie sind weg«, und mir dazu nur einfiel, daß mein Vater immer genau dasselbe gesagt hatte, wenn meine Vettern aus Thria zu Besuch gekommen waren und ich mich wie immer im Stall versteckt hatte, weil meine Tante eine Hasenscharte hatte und mir schreckliche Angst einjagte. Jetzt lugte ich vorsichtig hinter dem Felsen hervor und sah die ganze Schweinerei.
    ›Schweinerei‹ ist wirklich das einzig treffende Wort. Ich weiß nicht, ob Sie schon einmal am Morgen nach dem Straßenhändlerfest in der Stadt gewesen sind und sich Richtung Marktplatz bewegt haben, aber genau der gleiche Anblick bot sich auch hier, ungelogen – haargenau dieselbe erbärmlich aussehende und niederschmetternde Schweinerei, die Leute hinterlassen, wenn sie sich eine Spur zu heftig amüsieren. Mit dem einzigen Unterschied, daß hier – statt der zerbrochenen Weinkrüge, verlorenen Sandalen und kleinen Lachen von Erbrochenem vor

Weitere Kostenlose Bücher