Der Ziegenchor
den Statuen der Helden der athenischen Geschichte – Leichen, zertrümmerte Karren und Blutlachen zu finden waren; und letztere hatten sogar die gleiche Farbe wie erbrochener Rotwein, wenn man nicht genau hinsah. Das Ziehen von solchen Vergleichen erkläre ich mir damit, daß die menschliche Seele seltsame und schreckliche Erlebnisse einfach nicht verarbeiten kann und darum dem Auge vorzutäuschen versucht, es erblicke etwas ganz Normales und Alltägliches. Ich glaube, das ist auch der Grund, warum die Vergleiche in Gedichten so gut gelingen. Wenn ich Ihnen erzähle, daß die Straße mit abgeschlagenen Armen und Beinen übersät war, werden Sie sich das nicht wirklich bildlich vorstellen können, denn falls Sie noch nie mit eigenen Augen das eine oder andere Schlachtfeld gesehen haben, wissen Sie nicht einmal im entferntesten, welch ein Anblick das ist, und wollen ihn sich wahrscheinlich auch gar nicht erst ausmalen. Aber wenn ich schreibe, daß überall auf der Straße Arme und Beine wie Treibholz nach einem heftigen Seesturm am Strand verstreut lagen, dann können Sie sich sehr wohl ein Bild davon machen; und falls Sie sich in Ihrem Homer auskennen, sind Sie obendrein in der Lage, genau zu sagen, welchem Abschnitt der Kypris ich diesen Vergleich einfach entnommen habe. Aber zurück zum Geschehen.
Kallikrates und ich schlenderten den Hügel hinab – Eile schien keinen großen Sinn mehr zu haben – und versuchten, uns so nützlich wie möglich zu machen, aber leider konnten wir nicht mehr viel tun. Die anderen Dorfbewohner, die so vernünftig gewesen waren, vor der herannahenden Reiterei davonzulaufen, waren zum Ort des Gemetzels zurückgeschlichen und kümmerten sich nun um die Verwandten und Freunde, für die noch nicht jede Hilfe zu spät kam, oder streuten Staub auf die Gesichter derjenigen, denen sie nicht mehr helfen konnten. Kallikrates und ich standen ihnen die meiste Zeit nur im Weg. Ich erinnere mich an einen Mann, der auf der Seite lag und eigentlich gar nicht augenfällig tot wirkte. Doch als wir ihn hochhoben, um zu sehen, ob er noch am Leben war, rutschte der Kopf sofort nach hinten vom Hals und blieb baumelnd an einem schmalen Hautstreifen hängen. Der Gesichtsausdruck des Toten war, ehrlich gesagt, haarsträubend, deshalb streuten wir schnell ein wenig Staub darüber und machten uns schleunigst davon, so wie man beim Einkaufen auf dem Marktplatz zügig weitergeht, wenn man gerade versehentlich in eine der ordentlich gestapelten Melonen- oder Orangenpyramiden gelaufen ist und sie zum Einsturz gebracht hat.
Gerade als wir alle Hoffnung aufgaben, doch noch etwas Nützliches tun zu können, stießen wir auf einen alten Mann, der anscheinend keine Familie hatte, denn er kauerte vollkommen blutverschmiert auf dem Boden, ohne von irgend jemandem beachtet zu werden. Er verlangte mit grausig krächzender Stimme nach Wasser. Also rannte ich los, entdeckte einen Helm, der einem der Reiter vom Kopf gefallen war, füllte ihn in einem den Hügel hinabfließenden Bach mit Wasser und brachte ihn zurück, wobei ich mir wie der Gott der Heilkunst höchstpersönlich vorkam. Der alte Mann riß mir den Helm aus der Hand und goß sich den Inhalt ins Gesicht. Doch keiner von uns, nicht einmal er selbst, hatte bemerkt, daß ihm von einem Säbelhieb ein riesengroßes Loch in die Kehle gerissen worden war, aus dem der Großteil des Wassers natürlich direkt auf den Boden floß. Einen Augenblick später gab der Mann eine Art rasselndes Geräusch von sich, das so klang, als würde jemand nach einer Zahnextraktion mit Salzwasser gurgeln, kippte um und starb. Die ganze Hilfsaktion war also reine Zeitverschwendung gewesen. Übrigens habe ich, wie mir erst jetzt richtig bewußt wird, bei dieser Gelegenheit zum erstenmal einen Menschen von so nahem sterben sehen, daß ich dabei seinen Gesichtsausdruck beobachten konnte.
Nach dieser fruchtlosen Anstrengung fanden wir noch ein kleines Mädchen – es konnte nicht älter als acht oder neun Jahre sein –, dem direkt am Schulteransatz ein Arm abgeschlagen worden war. Vor lauter Angst und Schmerzen hatte es sich naß gemacht, und darüber schien das Mädchen viel betrübter zu sein als über die Verletzung. Dabei weinte oder kreischte es nicht einmal, sondern quengelte nur wie jedes andere kleine Kind. Die Mutter hatte gerade alles getan, was in ihrer Macht stand, um die Blutung zu stillen, und versuchte jetzt, ihrem Kind die nassen Kleider auszuziehen, wobei sie schimpfte, weil das
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