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Der Ziegenchor

Der Ziegenchor

Titel: Der Ziegenchor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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Mädchen nicht stillhielt. Ehrlich, beim Anblick der beiden spürte ich den starken Drang, mich auszuschütten vor Lachen, aber vielleicht lag es auch nur daran, daß ich langsam hysterisch wurde. Möglicherweise denken Sie jetzt, daß das aus dem Mund von jemandem, der die Pest in Athen erlebt hat, ein bißchen komisch klingt, aber ich versichere Ihnen, das beides nichts miteinander zu tun hatte. Während der Pest gab es nämlich keine Wunden und kein Blut, sondern nur unzählige Leichen, und außerdem war ich zu jener Zeit noch viel jünger. In einer Hinsicht ähnelte das Gemetzel allerdings der Pest, denn so sehr mir das ganze Elend auch an die Nieren ging, so konnte ich mich doch nicht dagegen wehren, alle die kleinen Einzelheiten wahrzunehmen – und das nicht etwa deshalb, weil sie besonders ans Herz gingen oder abstoßend waren, sondern einfach nur deshalb, weil sie als merkwürdige Beispiele menschlichen Verhaltens interessant waren.
    Aber ich sollte lieber damit aufhören, auf diese Weise weiterzuerzählen, denn sonst gewinnen Sie noch den Eindruck, ich sei eine Art leichenfressender Dämon wie dieser abscheuliche Chairophon, jener Forscher, der durch die Gegend zieht und zusieht, wie anderen Leuten die Gallensteine herausgeschnitten werden. Bitte glauben Sie nicht, mir hätte auch nur das geringste davon gefallen, was ich damals vor dem Dorf mitansehen mußte. Ich stand Todesängste aus, zumal ich felsenfest davon überzeugt war, daß jeden Moment die spartanische Fußtruppe eintreffen werde, um die einmal begonnene Arbeit zum Abschluß zu bringen. Ich glaube, Kallikrates schien trotz aller guten Vorsätze, den Verwundeten zu helfen, ziemlich dasselbe zu denken, denn er warf immer wieder besorgte Blicke über die Schulter zurück. Obwohl ich eine Heidenangst hatte, kam mir allerdings nie ernsthaft in den Sinn, daß auch mir etwas zustoßen könnte; viel eher war ich daran interessiert, kein weiteres Massaker miterleben zu müssen. Anscheinend hatte ich die Illusion, nicht wirklich am Geschehen teilzunehmen, als wäre ich nur ein Tourist von einer der Inseln oder ein Gott, der sich unsichtbar machen kann.
    Mein Vetter und ich bereiteten uns bereits auf die Flucht vor, als auf einmal durch meinen Fuß ein unglaublich heftiger Schmerz zog und sich herausstellte, daß ich auf eine abgebrochene Säbelklinge getreten war und mir eine tiefe Schnittwunde an der rechten Ferse zugezogen hatte. Diese Tatsache teilte ich sogleich Kallikrates mit, der daraufhin in sich zusammensackte, als sei ihm von jemandem das Rückgrat gebrochen worden.
    »Du Narr!« fluchte er kläglich. »Wozu hast du das jetzt bloß wieder angestellt?«
    Ich erklärte ihm, daß ich nicht absichtlich auf die Klinge getreten sei und irgendwo meine rechte Sandale verloren haben müsse; aus irgendeinem Grund hatte ich ein furchtbar schlechtes Gewissen, wobei ich allerdings spürte, wohl den falschen Moment erwischt zu haben. Kallikrates riß einen Stoffstreifen aus seinem Umhang und verband meinen Fuß so gut wie möglich. Doch trotz allen Erfindungsreichtums der Menschheit ist keine Methode bekannt, eine Ferse wirksam zu bandagieren, weil sie eine so ungünstige Form und eben nichts hat, woran man eine Binde befestigen könnte. Wir blickten uns verstohlen nach allen Seiten um, ob uns auch niemand beobachtete, zogen einer in der Nähe liegenden männlichen Leiche die rechte Sandale aus und banden sie mit dem Streifen aus Kallikrates’ Umhang fest an meinen Fuß. Das war zwar besser als gar nichts, aber immer noch äußerst unbequem.
    »Damit ist der Fall ja wohl erledigt. Wir sollten jetzt lieber von hier verschwinden«, stellte Kallikrates fest, als würde er sich insgeheim darüber freuen, einen Vorwand zu haben, den Ort des Geschehens zu verlassen.
    »Wohin denn?« fragte ich wie ein Tor. »Wir wollen uns doch bestimmt nicht ganz bis nach Athen durchschlagen, oder?«
    »Also, nach Sparta werden wir sicherlich nicht gehen, und hier sollten wir lieber auch nicht bleiben«, zischte mich Kallikrates an. »Jetzt sieh dich mal um, ob du irgendwas findest, was du als Wanderstab nehmen kannst.«
    Ich entdeckte einen Speer – werde aber nicht sagen, wo –, dem Kallikrates mit seinem Schwert die Spitze abschlug. Mit diesem Hilfsmittel zum Aufstützen war ich zwar in der Lage, ziemlich gut voranzukommen, wenngleich auch nur humpelnd, wobei ich aber keineswegs behaupten will, daß ich mich über die Aussicht auf eine zehnstündige Wanderung über die Berge

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