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Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Titel: Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nils Minkmar
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Wahlkampf aber keine Rolle.
    Wiesbaden hat eine starke bürgerliche Mehrheit, die Union macht sich wenig Sorgen, auch diese Wahl gewinnen zu können. Am orangefarbenen Stand sieht alles besser aus, die Wahlhelfer gehen auf die Passanten zu, kein Kind bleibt ohne Ballon oder Gummibärchen. Die SPD -Traube hingegen löst sich nicht auf, die Leute sind in Dauergespräche verwickelt oder streiten sich gar. Und während Müller fröhlich und jovial Hände schüttelt, hat Gerich keine Stimme mehr und sieht aus, als würde er gleich umfallen vor Erschöpfung. Orange hat überdies Verstärkung aus Berlin bekommen, eine leibhaftige Bundesministerin macht Wahlkampf für Müller: Kristina Schröder steht vor dem Karstadtgebäude, wenn auch leicht abseits vom Strom der Passanten. Ein Rentner quasselt auf sie ein, sie wirkt genervt und ungeduldig. Neben ihr steht ein junger Mann, der aussieht wie ein Personenschützer. Er trägt ihre Handtasche. Das ist kein Bild, das das Wählerherz erfreut.
    Als am folgenden Tag die Auszählung abgeschlossen ist, liegt die SPD mit wenigen tausend Stimmen extrem knapp vorn. Das dürfte in etwa die Zahl von Wählerinnen und Wählern gewesen sein, die gestern an Schröder vorbeigegangen sind und sich gefragt haben, ob sie ihre Handtasche nicht selber tragen kann. Aber vielleicht ist das auch nur meine persönliche Aversion.
    Entscheidend für den Wahlsieg, heißt es später, seien die Hausbesuche des Kandidaten gewesen. Schon ein Jahr vor der Wahl hatte die Wiesbadener SPD damit begonnen, die Themen Mieten und soziale Stadt ins Zentrum des Wahlkampfs zu stellen, der damit für hessische Verhältnisse einigermaßen entideologisiert war. Lebensnahe Themen der Vororte brachten den Sieg, was sich in einer erhöhten Wahlbeteiligung ausdrückte.
    Wiesbaden wurde zum Modell eines möglichen Wahlsiegs für die SPD in diesem Jahr. Der sollte auch gegen eine beliebte Amtsinhaberin gelingen, wenn nur die Wahlbeteiligung hoch genug ausfiele. Und dazu mussten jene mobilisiert werden, die vor vier Jahren nicht gewählt hatten und auch dieses Mal nicht zu gehen beabsichtigten. Es sollte also um Themen gehen, die das Leben der Menschen verbessern, damit die spätabends angestellten Haushaltsrechnungen auf der Rückseite von Briefumschlägen etwas günstiger ausfallen. Für die Sozialdemokraten hieß das: keine Plakate mehr, auf denen man die Erde vom Weltall aus betrachtet sieht, keine Versprechen zur ökologischen Revolution, zu umfassender Abrüstung, Erlösung der Dritten Welt samt Trinkwasser für alle und zu endgültiger Befriedung der Menschheit.
    In diesem Wahlkampf würde es um die kleinen Schritte gehen, an deren Ende es jene besser hätten, die durch Verzicht und ein Sich-Einlassen auf unsichere Verhältnisse den neuen deutschen Aufschwung mittragen. Doch Hausbesuche sind heutzutage ein aufwendiges Mittel der Kommunikation. Und wie soll so etwas bei einer Bundestagswahl gelingen? Wollte man es ernsthaft versuchen, setzte dies eine rekordträchtige Mobilisierung der eigenen Anhänger und eine absolute Geschlossenheit voraus. In einem 80 -Millionen-Staat kann man nicht von Tür zu Tür, von Großstadt zu Großstadt ziehen, zumal die meisten Deutschen auf dem Land wohnen, in Kommunen oder Ortsteilen mit weniger als 60 000  Einwohnern. Wie Politiker so schön sagen: in der Fläche.
    In der verbleibenden Zeit war für den Kanzlerkandidaten nur eines machbar: ein Besuch der sechzehn Bundesländer. Die sind zu schaffen, zumal einige davon nur die Größe einer Stadt haben. Ein Handicap blieb: So ein mit viel Wählerkontakt und in den regionalen Medien gespielter Wahlkampf muss lange vorher begonnen werden, ein Jahr vor der Wahl mindestens. Es schadet auch nicht, wenn er ganz zu Beginn unterhalb des medialen Radars beginnt, wenn es eine frühe Zeit gibt, in der die Wähler den Kandidaten für sich haben und, vielleicht ebenso wichtig, der Kandidat etwas über das Land lernt und über die Menschen, die in ihm leben. Denn es verändert sich rasend schnell. Für einen kurzen Wahlkampf taugt diese Strategie nicht. Und dieser Bundestagswahlkampf sollte einer der kürzesten überhaupt werden. Steinbrück handelte gemäß dem Spruch auf alten Witzpostkarten: Du hast keine Chance, nutze sie!
     
    Immerhin hatte sich jemand besonnen und ihm eine Art Vorbereitung und Begleitung organisiert. Bei der Veranstaltung im Ofenwerk in Nürnberg war fast so etwas wie ein Eventcharakter zu spüren.
    Damals zeichnete sich das

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