Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
Gebäuden, das Thema elektrisierte alle anwesenden Männer. Es wird sehr schnell sehr detailliert, es geht um dämmende Fenster und Belüftungsschlitze, um Materialien und Techniken und ihre Tücken und die Vorbehalte der Mieter, die dem ganzen neumodischen Kram nicht trauen und immerzu bei der WBG auf der Matte stehen. Hier könnten alle ewig mit dem Thema fortfahren: die Verbesserung des Lebens mit den Mitteln des Baumarkts.
Es folgt ein Rundgang durchs Viertel, zwischen Teppichstangen und aufwendig inszenierten Mülltrennungsbatterien entlang. Man mag sich nicht ausdenken, welche Nachbarschaftsstreitigkeiten hier toben können. Die Straßen sind leer, es herrscht die gute alte bundesrepublikanische Idylle eines Werktagvormittags. Das Einzige, was wirklich nicht ins Bild passt, ist diese Gruppe von Männern in langen dunklen Mänteln, die an einem Werktagvormittag hier herumspaziert. Der Zug bewegt sich in Richtung eines Wohnprojekts, das angekündigt wird wie eine Truppe russischer Artistinnen: die Olgas. Steinbrück nimmt sich zuvor die begleitenden Journalisten zur Brust: Es dürfe bei den alten Damen keine Stampede der Berichterstatter geben, kein unwürdiges Drängen und keine Einschüchterung der Bewohnerinnen. Alle nicken artig. Dann kommt eine Radioreporterin und lobt ihre Fragen, bevor sie sie gestellt hat. Das soll nämlich ein großes Porträt von ihm werden, gefertigt in anderthalb Tagen. Der Kandidat staunt und bittet also um die Frage: »Mussten Sie für das Wahlprogramm nach links rücken, um der Partei zu gefallen?« Obwohl ich direkt daneben stehe und mich stets um Neutralität bemühe, muss ich auflachen. Die Diskrepanz zwischen dem Selbstlob der Ankündigung und der Schlichtheit der Frage ist zu überraschend. Sie wiederholt exakt den Steinbrück der Woche, das, was in jenen Tagen alle schreiben. Es löste den »Pannen-Peer« für kurze Zeit ab und wird nun überall wiedergegeben und als tiefe Analyse verkauft. Es ist aber eine Pseudoerkenntnis. Alle Politiker müssen wandelbar sein und sich veränderten Entwicklungen in der Gesellschaft, etwa der Zunahme des Billiglohnsektors, stellen. Und alle Kandidaten brauchen ihre Partei und müssen die Beschlusslage berücksichtigen, das sind nun einmal die deutschen Spielregeln. Einen Kandidaten, der sein Programm in Steintafeln mit sich führt, gibt es nicht.
In der Wohnung der Olga-Damen ist die Decke niedrig und die Stimmung euphorisch. Bei ihrem Projekt handelt es sich um ein Haus mit mehreren Wohnungen, das von der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft eigens für diese Gruppe und nach ihren Vorstellungen gebaut wurde. Die Investition lohnt sich in jeder Hinsicht, denn Heimplätze würden ein Vielfaches kosten, die Lebensfreude der Damen aber steckt alle an und ist unbezahlbar. Die Gruppe hatte sich schon vorher zusammengefunden und die Verantwortlichen so lange bearbeitet, bis es zum Bau kam. Das war dann die »am besten überwachte Baustelle von ganz Nürnberg«, sagen sie stolz, jeden Tag seien sie vor Ort gewesen und hätten die Details kontrolliert. Heute ist das Haus ein beliebtes Vorzeigeprojekt, ihr Garten in der Saison eine Augenweide, vor der die Passanten und Radfahrer stehenbleiben. Und die Olgas kümmern sich auch um die Fridas, das ist ein Wohnprojekt für junge, alleinerziehende Mütter. Die Damen reden ohne Pause, machen Witze und sind von bemerkenswerter Energie, die sich auf die Herren in den dunklen Mänteln überträgt, die unsicher und leicht melancholisch hier hereingekommen sind. »Männer meiner Generation«, sagte eine von ihnen, »die können Sie zu nichts gebrauchen, die wollen nur bedient werden.«
Steinbrück erfährt, dass die jüngste unter den Damen mit 66 Jahren nur unwesentlich älter ist als er selbst.
Bald darauf würde ich die Damen aus der kleinen Wohnung in einer ziemlich großen Halle wiedersehen. Während der Rede Steinbrücks auf dem SPD -Programmparteitag in Augsburg waren sie der fröhliche, lebendige Glutkern einer alles in allem beklemmenden Großveranstaltung. »Größer als der Aufwand für ›Wetten, dass ..?‹ sei die Vorbereitung eines solchen Parteitags, sagte der Bürgermeister im Radio. Steinbrück stellte die Olgas mitten in seiner Rede vor, wie viele andere, die er auf den Klartextveranstaltungen kennengelernt hatte. Das war der Teil seiner Rede, der mir am besten gefiel, weil er die Öffnung des Kandidaten und seiner Partei zur bundesrepublikanischen Vielfalt symbolisierte. Man lernte
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