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Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Titel: Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nils Minkmar
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schlechte Wetter des Frühjahrs und Sommers schon ab, es war kalt und gleichzeitig bedrohlich gewittrig. Ich weiß nicht, wie viele Pferde es gebraucht hätte, mich an diesem Abend aus dem Haus zu ziehen, die Elemente machten es schwer und die Örtlichkeiten auch. Der Ort der Veranstaltung war entlegen und die Fahrt dorthin maximal trist, in den Ausfallstraßen der Stadt standen wir im Stau, und ich konnte die Trostlosigkeit der Vororte genau studieren. Wieder ein Aldi, wieder ein Obi, dann eine Gewerberuine, deren Scheiben eingeworfen waren. Ein schmieriger dunkler Schneeregen setzte ein. Der Taxifahrer war ein Mann um die vierzig und schüchtern. Er fragte erst recht spät, ob ich zu der Veranstaltung mit dem Herrn Steinbrück wollte. Und als ich ja sagte, da leuchtete sein Gesicht auf, ich solle ihn herzlich grüßen, er solle ja gewinnen im September. Das hatte ich noch nie erlebt: ein sozialdemokratischer Taxifahrer. Ich hätte ihn am liebsten fotografiert.
    Der Ort war eine ehemalige Industriehalle, man sah noch die Lasttransportmotoren und die Schienen unter der Decke. Einst war die SPD aus solchen heißen Hallen hervorgegangen, dringende Not und körperliche Bedrängnis zu lindern. Heute beschäftigte sie dort Eventplaner mit Klemmbrett und Smartphone. Doch ganz hat die Seele der Partei diesen Wandel nicht nachvollzogen. Ist die heutige Gesellschaft nicht schon in rein körperlicher Hinsicht humaner und schlicht schöner als jene zur Entstehungszeit der Arbeiterbewegung? Ist es nicht begrüßenswert, wenn diese Kulisse nun der Ort ist, so einen Abend zu veranstalten, zu dem alle frisch geduscht erscheinen? Die Antwort der Mehrheit der SPD -Mitglieder wäre nicht eindeutig. Die Nostalgie nach der heroischen Zeit, nach körperlicher Arbeit, Kameradschaft und Verschwiegenheit ist groß. Und es ist so ein leichtes Gefühl.
    Es gab sogar eine Moderatorin mit Kärtchen, alles sah plötzlich durchdacht und komponiert aus, und für einen Moment konnte man sich einen echten professionellen und engagierten Wahlkampf träumen. Als Steinbrück hereinkam, drängelten sich Kamerateams, Reporter, seine Begleitung, örtliche Parteigrößen und einfache Schaulustige um ihn. Ein Politiker ist heutzutage neben allem anderen auch ein Promi, einer, der oft im Fernsehen ist und von dem man in den nächsten Tagen erzählen kann. Licht und Tempo umgaben Steinbrück nun. Bei allen Problemen hat so ein Wahlkampftermin auch einen unabweisbaren Charme und vermittelt eine sofortige Gratifikation durch Aufmerksamkeitszufuhr. Der Kandidat steht im Mittelpunkt wie die meisten Menschen nur selten in ihrem Leben und selbst Berufspolitiker wenige Male in ihrer Karriere. Alle Anwesenden strahlen um die Wette, teils wegen der Fotografen, weil alle anderen strahlen – teils aber auch, weil sie sich wirklich freuen. Darum war der selbstmitleidige, machistische Spruch von Gerhard Schröder in Braunschweig auch so irreführend, Wahlkampf ist nicht nur Kampf, er ist an vielen Abenden auch die reine Freude. Der Kandidat ist das Geburtstagskind, die Attraktion und der Artist.
    »Klartext« war ein neues Format der politischen Show, inspiriert durch das amerikanische Townhall-Meeting. Das Publikum war an drei Seiten um Steinbrück herum gruppiert, es gab keine Rede, sondern Fragen. Die Übung hatte etwas Zirzensisches: Erst nahm er drei Fragen aus allen Bereichen, dann, gegen halb neun, rief er der Moderatorin zu: »Wir nehmen jetzt fünf auf’n Mal!« Wie ein Gewichtheber, der sich immer mehr Gewichte aufladen lässt. Die Fragen waren: Unterliegen auch Genossenschaften den Bestimmungen der BaFin? Sind Strafzölle auf chinesische Solarpanels sinnvoll? Seine Meinung zur Zypernrettung? Welche Zukunft hat die Bundeswehr? Und weiter – Fragen zu Waffenexporten, zu UN -Mandaten, zur Agenda, zur Breitbandversorgung auf dem Land, zum Nahost-Friedensprozess. Es gab auch die Frage, was er denn gegen die vielen LKW auf den Straßen zu tun gedenke? Da improvisierte er einen eigentlich sehr gewinnenden Aufruf an Verbraucher, sich im Laden bewusst für regionale Produkte zu entscheiden, dass man mit Sinn und Verstand kaufen und die Krabben nicht durch den halben Kontinent schicken soll, dass man durch sein Verhalten also die Welt beeinflussen kann – bis hin zum Stau auf den Autobahnen. Ein Thema, das er im Wahlkampf ruhig hätte entwickeln sollen, denn die Veränderung des eigenen Lebens und der Welt durch bewusste Supermarktentscheidungen war etwas, das

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