Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
verblassende Silhouette im Zweireiher. Bald zankt er sich wieder mit den Vertretern von »Bild« und »Spiegel« über die Berichterstattung zu seiner Bahncardnutzung. Heikel wird es, als die Journalistin neben ihm sich verabschieden möchte. Kokett bemerkt sie, sie gehöre ja altersmäßig gar nicht mehr zu der Zielgruppe, die ihn als Kandidaten interessierte. Eigentlich kann er da schon nicht mehr, aber er pariert mit der Versicherung, doch, genau ihre Generation liege ihm besonders am Herzen. Sie repliziert, es geht in eine seltsame Richtung und immer ganz nah am Spruch zu viel. Gemessen an den Arbeitsbedingungen – der Tag begann in aller Frühe, ohne Pause und sah aus wie ein Feldversuch in Dehydrierung –, gemessen daran ist es eigentlich ein Wunder, dass an jenem Abend der große Patzer ausblieb. Steinbrück soll durch Fehlleistungen unterhalten, in diese Rolle war er im März geraten. Es stellte sich die Frage, ob das jedem Kandidaten so gehen würde, der nicht von sich aus die ganz große Unterhaltungsmaschine zu füttern versteht.
Der Gegenspieler ernster Politik ist nur noch in Nuancen der andere ernsthafte Politiker, sondern es ist der Clown oder besser: die Trias aus Showbusiness, Mafia und Finanzbranche. Gegen Berlusconi, Depardieu und ihre Freunde wie den Tschetschenen Kadirow hat die Politik keine Argumente und keine Waffen. Es ist die Tea-Party- und Sarah-Palin-Falle: Wie soll man gegen hellen Wahn ankommen? Gegen den Glamour des Starsystems mit seinen frei fließenden Milliarden, den PR -Firmen und der kontrollierten Optik? Die Kräfte der parlamentarischen Demokratie haben ja schon Mühe, ihren Helden ein Wasser hinzustellen. Was nicht ganz gerecht ist, denn die großen Medienkonzerne setzen viel Geld um mit der Berichterstattung über die demokratischen Vorturner. Auch hier gilt: Rich Media, poor democracy.
Später, in Berlin, spreche ich Steinbrück auf diesen Abend an, der ein Symbol war für den schlechten Start und die miesen Bedingungen. Er sagt, man würde es als »snobby« werten, wenn er nach jemandem verlangte, der sich um Heizung und solche Dinge kümmert. Dann erzählt er von seinem privaten Umzug in Berlin. Als das Haus in Moabit, in dem er sich mit seiner Frau eine Eigentumswohnung gekauft hat, gerade renoviert wurde, hatte der Architekt dort einen »Spiegel«-Redakteur auf der Baustelle entdeckt und hinausbefördert. Über die Fastnachtszeit hatte Steinbrück die Regale angebracht. Und nun, nach der Rückkehr aus Belgien, war der Tag des Umzugs gekommen. Ausgerechnet an diesem Tag war im Gebäude der Lift defekt. Da habe er, weil die Männer vom Umzugsunternehmen so entmutigt wirkten, eben auch Kisten geschleppt. Eine demotivierte Truppe, streikende Beförderungsapparate und selbst ist der Mann – symbolisch treffend endete diese erste Phase des großen Wahlkampfs. Die Reise durch die europäischen Hauptstädte – und alle politischen Themen waren untergegangen in einem grotesken Tohuwabohu, das selbst zum dominierenden Thema wurde. Und dann kam es – noch schlimmer.
Bis zu den letzten Tagen der Legislaturperiode sollte Steinbrück wie einst Jonathan Pryce in Terry Gilliams Film »Brazil« in freiem Fall ein Stockwerk nach dem anderen durchbrechen, und man würde atemlos zusehen und irgendwann die Augen schließen wollen.
5 Abwärts
Vor Karstadt in Wiesbaden haben sich in einigem Abstand voneinander zwei Gruppen älterer Menschen aufgebaut und hindern die Passanten am zügigen Vorbeigehen. Die eine Gruppe ist in Cordhosen, Windjacken und ähnlicher sogenannter Funktionskleidung gewandet, die andere trägt Lodenmäntel und cremefarbene Capes. Luftballons für die Kinder gibt es in Rot hier, in Orange dort. Übermüdet und bleich sind alle.
Es ist der Samstag vor der zweiten Runde der hessischen Kommunalwahl, und es ist, wie oft in Hessen und seit einem Jahrzehnt eigentlich immer bei Wahlen in der westlichen Welt, sehr eng.
Als Favorit gilt der Amtsinhaber Helmut Müller von der Union, ein zuverlässiger und beliebter Mann, der schon mal mit einem Plastikschaf auf den Wahlplakaten posiert. Sein Gegenkandidat ist Sven Gerich, ein jüngerer Mann, der relativ neu in der Politik ist, ein Unternehmer mit einer ungewöhnlichen Lebensgeschichte. Er wurde als Heranwachsender adoptiert und führt nun die Druckerei seines Vaters weiter. Und während in Frankreich erbittert und zum Teil gewalttätig um die HomoEhe gestritten wird, ist er mit einem Mann verheiratet. Das spielte im
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