Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
hätte einen Hexenkessel aus diesem Saal machen können, alle mit einer unauslöschlichen Erinnerung an politischen Furor nach Hause schicken können, aber er bleibt bei seinem bewährten Repertoire. In seiner Generation gibt es noch eine Zurückhaltung gegen einen vor Emotionen tobenden Saal. Ganz im Gegensatz zu seinem Ruf als Panzernashorn ist Steinbrück sowohl im direkten persönlichen Kontakt wie auf einer Bühne eher von dem Wunsch nach Contenance geprägt. Bill Clinton hätte hier niemanden ohne ein Foto mit Widmung aus dem Saal gehen lassen, hätte die Menge zum Weinen und Lachen gebracht. Steinbrück braucht diese Art der Anerkennung, die Liebe eines ganzen Saals nicht, um glücklich zu sein. Das ist ein gutes Zeichen und ein Problem.
Doch der Abend ist noch nicht zu Ende, obwohl es spät ist und der Tag schon in aller Frühe begann. Abmarsch in Sekundenschnelle, Transfer zum Restaurant in Bestzeit. Jemand hat bei einem Italiener reserviert, dort soll Steinbrück die in Brüssel tätigen deutschen Journalisten treffen, und das sind sehr viele. Es geht die Stufen hoch, der Ort ist denkbar ungeeignet, die Räume sind zu klein. Chaos ist die Folge. Steinbrück wird am Kopf einer Tafel platziert, mit dem Rücken zu einem hyperaktiven Heizkörper. Neben ihm sitzt eine attraktive und komplizierte Journalistin seines Alters, die ihn an ein Interview erinnert, das er ihr einmal gegeben hat, als er noch Ministerpräsident in NRW war. Sicher habe er es vergessen, fügt sie an, die gegenteilige Beteuerung erwartend. Der überhitzte und dehydrierte Steinbrück erwidert eine Spur zu aggressiv: »Es hat sich mir für immer ins Herz graviert.« Sie erschrickt, er auch. Zum Glück findet er eine passende Modulation der Stimme und fügt hinzu:»Schön, dass es Ihnen damals gefallen hat. Nun versucht man mir ja, das Spontane auszutreiben, so macht das keinen Spaß mehr.«
Es folgt aber noch immer kein Glas Wasser, sondern sein Referat der europapolitischen Gespräche und also der Nuancen, die ihn von der Kanzlerin trennen. Es geht um Zypern und anderes mehr. Steinbrück agiert hier erneut fehlerfrei. Er macht auf die Lücken in der Berichterstattung etwa der Personalpolitik der Kanzlerin aufmerksam: Es sei doch aussichtslos gewesen, Schäuble als Chef der Eurogruppe ins Spiel zu bringen. Doch genau dafür habe die Kanzlerin schon früh, als Bauernopfer, gute Deutsche für wichtige Posten nicht mehr vorgesehen, etwa Thomas Mirow als Chef der Osteuropabank. Mehr noch: Die ganze soziale Wende der europäischen Politik nach dem Wahlsieg von Hollande mit dem Projektfonds für Infrastrukturmaßnahmen, das sei alles bloß Ankündigung geblieben.
Er referiert und leidet sichtbar unter der Hitze. Niemand schafft es, den Heizkörper abzustellen. Er solle doch einfach das Sakko ausziehen, ruft einer. Es dauert fast eine Stunde, bis ein Kellner den Weg nach oben findet und es schafft, ein verträgliches Arbeitsklima zu schaffen.
Das Pendant zum Peerblog ist an diesem Abend Stefan Raab und die Frage, ob er eines der Kanzlerduelle mit moderieren solle: Wäre es gut gewesen, sich nicht gleich so ablehnend zu zeigen, fragen die Journalisten. Steinbrück wird laut: »Freunde, ich will jetzt nicht in irgendwelche Sendungen gebombt werden, sonst sitzen wir morgen alle bald bei Raab und Bohlen.« Mit Grausen erzählt er von der Jauch-Sendung mit Johannes Ponader, der während der Sendung twitterte. »Ich hätte dann auch mein Telefon herausgeholt: Hallo Schatzi, ich sitze gerade beim Jauch, der hat vielleicht irre Vögel eingeladen, und die Gesprächsführung hat er auch nicht im Griff.« Natürlich sollen auch Politiker unterhalten, aber alles ist sehr verworren. Steinbrück lobt die Arbeit von Jean-Claude Juncker, den er sehr schätzt. Er formuliert einige freundliche Worte, dann fragt ein Mitarbeiter der »taz«: »Ist das jetzt Ironie?« Steinbrück echauffiert sich, was keine Kunst ist wegen der alten Brüsseler Heizung in seinem Rücken: »So weit ist es gekommen. Das ist das Alarmierendste, was ich in den letzten fünf Monaten gehört habe!« Die Kommunikation ist so verflixt, dass sein Ernst als Ironie gedeutet und die Ironie ihm ernsthaft angekreidet wird.
Ernsthafte Fragen gibt es nicht mehr. Der Abend zieht sich, Steinbrück erhält unerbetene Tipps, wie bereits geschehene Pannen besser zu vermeiden gewesen wären. Die verbliebenen Journalisten sehen ihn an, als würde er schon in den Film vom Beginn des Abends gehören, eine
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