Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
abgeschafft, die doch eine Essenz der Conditio humana ist, als sei die Zukunft irgendwo schon aufgezeichnet und man müsse nur gut genug rechnen, gut genug die Rechner programmieren können, um sie sichtbar zu machen, und zwar in Farbe.
Doch das ersehnte eindeutige Votum wird von den Befragten verweigert. Die Demoskopen stellen Fragen, die sich die Leute selbst nicht stellen. Warum sollte man hypothetisch die letzten Monate der Koalition überspringen und schon vor der Zeit Bilanz ziehen?
Selbst die beliebteste Kanzlerin der Welt und mächtigste Frau Europas hat keine eindeutige parlamentarische Mehrheit. Ihr Wunschkoalitionspartner ist Mal um Mal unter der 5 -Prozent-Hürde, und konservative Leihstimmen gefährden die dominierende Stellung der Union. Auch Rotgrün kommt nicht aus einem beschränkten Bereich knapp unter 40 Prozent heraus ins Offene.
An jenem Abend hatte niemand eine schöne Perspektive: Die große Koalition galt der SPD als böse Falle und bedeutete das Ende von Steinbrücks politischer Karriere. Die Grünen fühlten sich mit den Sozen in babylonischer Gefangenschaft, würden Schwarzgrün aber politisch nicht überleben, obwohl viele mit einem solchen Versuch rechnen. Die Linken banden einen gewaltigen Stimmenblock, ohne irgendetwas für ihre Wähler tun zu können. Die Piraten hatten sich selbst auf Irrfahrt geschickt, und der Effekt der AfD war noch völlig unkalkulierbar. Das Schicksal der drittgrößten Industrienation der Welt, des Motors und Ankers der EU , es würde sich am Nachmittag des 22 . Septembers mit einigen tausend Stimmen entscheiden, die hin oder her wehen. Die knappe Zeit bis dahin fühlte sich an jenem Abend in Saarbrücken ganz schön lang an.
Das Wetter schlug Kapriolen, und diese Kampagne imitierte das. Sie war von einer seltsamen Beschleunigung erfasst, die etwas Ungutes ahnen ließ. Ich war selbst neben der Spur. Saarbrücken ist meine Heimatstadt, ich hatte morgens eher zufällig einen schwarzen Anzug aus dem Schrank gefischt. Als ich mittags so durch die Stadt lief, hatte ich plötzlich das Gefühl, wie in einem Traum zu wandeln: In einem Beerdigungsanzug durch die eigene Geburtsstadt bei aufziehendem Sturm.
Die Saarbrücker Veranstaltung war einigermaßen gut abgelaufen, aber es hatte wieder kleinere Pannen gegeben. Alarmiert hatte mich, dass ich im Publikum all jene entdeckte, die ich seit meiner Jugend und der Studentenzeit als saarländische Sozialdemokraten kenne, aber sonst niemanden. Dies musste der allerengste Kreis sein, kaum ein Grüner hatte sich in die Halle verirrt. Zudem fand die Veranstaltung auch nicht im großen Saal der Kongresshalle statt, sondern in einem kleineren daneben. Es war also nicht gerade eine Massenveranstaltung gewesen. Steinbrück hatte die saarländischen Landesminister durcheinandergebracht, ansonsten aber alles gewohnt virtuos absolviert. An einer Stelle wollte er die Feinheiten des Energieeinspeisegesetzes darstellen und die Funktionsweise der Leipziger Energiebörse erklären, was aus dem Stand eine heikle Sache ist – aber er hatte großen Spaß am Risiko und an dem zirzensischen Schauder, es dann doch zu können.
Die Fragenden waren meist Vertreter von Körperschaften oder sprachen aus einer bestimmten Interessenlage heraus eine Frage an. Ein Student stellte sich als Mitglied der Linkspartei vor und fragte listig, warum Steinbrück denn eigentlich nicht Kanzler werden wolle? Das sei doch besser, als Minister unter Merkel in einer Neuauflage der Großen Koalition zu sein. In seiner Antwort bemerkte der Kandidat, er habe schon »eine gewisse Vorstellung davon«, was die Linke in ihrem Wahlprogramm alles verspreche: »Da ist im Himmel Jahrmarkt!« Er blieb demgegenüber lieber bei seinem seriösen Zahlenwerk, seiner moralischen Mathematik und schloss damit zugleich die beiden Möglichkeiten aus, die ihm nach dem Stand der Umfragen am wahrscheinlichsten die Rückkehr zur Exekutive ermöglichen würden.
In einer der letzten Fragerunden stand ein weißhaariger, seriös wirkender Mann im weißen Hemd mit einer Cowboykrawatte auf und fing an, über die Kondensstreifen am Himmel zu reden, die in Wahrheit Aluminiumstreifen seien und Manipulationen der Regierung, um die Menschen gefügig zu machen und ihre Gedanken zu kontrollieren.
Erst nach einer kurzen Weile verstand Steinbrück, was das Problem war, und unterbrach ihn: »Keinen Dan Brown hier bitte.« Und allgemein zu Verschwörungstheorien: Wenn Mossad, CIA und alle anderen
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