Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
dermaßen überall die Hände im Spiel hätten, dann würde doch alles viel besser klappen. Er hatte den Mann nicht bloßgestellt, aber seine Einlassung doch mit gebotener Deutlichkeit unterbrochen. Der Vorfall war beendet, ohne dass sich der Fragende in die Enge getrieben oder herabgewürdigt fühlen musste.
Dieses Mal hatte die kleine Länderreise am Tag der Veranstaltung begonnen. Die Reise wurde unter das Motto Pflege gestellt, wohl um klarzumachen, dass sich das Land als Pflege- und Sanierungsfall sehen muss.
Ich treffe den Tross in einem Altersheim, in dem auch Studenten wohnen können, wenn sie sich eine gewisse Anzahl von Stunden am Gemeinschaftsleben beteiligen. Steinbrück kommt an, wird ins Haus geführt, dann geht es nach kurzem Geplauder zuallererst in das Untergeschoss. Ich folge mit seiner Büroleiterin Sonja Stötzel und Journalisten-Kollegen, dann stehen wir in einem ruhigen und leeren Keller. Aber nirgends ein Kandidat in Sicht. Man erkennt einen Friseursalon, einen Trainingsraum, aber nicht den Mann, den wir suchen. Für einige Augenblicke ist der Herausforderer der Bundekanzlerin im Keller eines saarländischen Altenheims verschollen. Später entdecken wir ihn in einer Art Handarbeitsraum, eine Dame steht da und bügelt, während eine andere eine Collage anfertigt. Sie sind alle frisch frisiert, der Laden im Untergeschoss hatte am Morgen eine Aushilfe bestellen müssen, um des Ansturms Herr zu werden. Später läuft Steinbrück in der Cafeteria umher und bleibt lange bei einem Tisch mit einem Schachspieler stehen. Er müsste längst von Tisch zu Tisch ziehen, doch er verhält sich, als wolle er das Klischee des Wahlkämpfers im Altersheim vermeiden. Es stellt sich die Frage nach dem Sinn eines solchen Besuchs, wenn nicht an jedem Tisch um jede Stimme geworben wird. Steinbrück scheint keine rechte Antwort zu haben. Er wirkt erleichtert, als er mit zwei der Studenten ins Gespräch kommt, die auch hier wohnen. Sie plaudern gleich über VWL versus BWL , es läuft viel besser. Warum man ihm bei diesem Länderbesuch nicht die kleine Universität vorgeführt hat, warum er ohnehin so wenig vor Studenten kommt, obwohl er das fast am besten kann, ist ein weiteres Rätsel der Planung.
Am Abend im Hotel trank er im kleinen Kreis etwas lokalen Wein und sinnierte vor sich hin. Einer seiner Mitarbeiter tröstete ihn: »Morgen früh sind wir hier weg.« Es gab zur späten Stunde dort nichts mehr zu essen, man hatte vorsorglich Sandwiches bestellt. Es handelte sich um ungetoastetes Toastbrot, das sich an den Ecken leicht wellte. Belegt waren die Dinger mit Salami, Mayonnaise und sehr müdem Salat. Während wir aßen, sprach Steinbrück plötzlich, untypisch für ihn, über seine Schulzeit, seine Kinder. Plötzlich erinnerte er seine Mitarbeiter an ein Familienfest und dass man ihn da auf keinen Fall verplanen dürfe. Er wirkte erschöpft und traumverloren.
Auf wen hörte er? Wie sollte es weitergehen?
Die kommunikativen Kreise innerhalb der SPD sind aus historischen Gründen recht kompliziert. Es gilt die chinesische Weisheit: Der Name, den man nennen kann, ist nicht der richtige Name. Faustregel: Wenn sich jemand Chefberater oder gar Stratege nennt und womöglich als solcher im Fernsehen auftritt, dann ist er keiner. Man sucht folglich, um mehr zu erfahren, nach jemandem, den keiner nennt.
Den schrieb ich – nach vertraulicher Vermittlung und Empfehlung – an. Kurz vor dem vereinbarten Treffen fiel mir ein, dass ich ja keine Ahnung hatte, wie mein Gesprächspartner aussah, und ein Zeichen zu vereinbaren – rote Nelke im Knopfloch oder so – wäre mir auch albern vorgekommen. Die Suchmaschinen lieferten keinen Hinweis. Ich fand keine Firma, keine Erwähnung im Archiv, eine auffällige Leere. So erkannte er mich. Nach einer freundlichen Begrüßung fragte er: »Haben Sie mich gegoogelt?« Und ohne meine Antwort abzuwarten, belehrte er mich: »Sie werden nichts gefunden haben.« Auch seinen Namen möchte er nicht in meinem Buch lesen. Es war ein gutes und auch hartes Gespräch über Potentiale und Defizite des Kandidaten und des Wahlkampfs. Der Mann kannte seine Genossen, hatte mitunter sogar die Aufgabe, lange Tiefeninterviews mit neuen Aufsteigern zu führen, um herauszufinden, ob sie wirkliche, im Kern zuverlässige Sozialdemokraten seien.
Seine wichtigste und dramatischste Feststellung betraf aber nicht nur die Sozialdemokraten, sondern alle demokratischen Parteien und ihre
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