Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
Besonders die Auswirkung des einfallslosen und uncharmanten Machwerks auf den Tourismus bereiteten ihm Sorgen: »Ich bin ja auch der saarländische Tourismusminister!«
Bemerkenswert war demgegenüber der Auftritt von Claudia Roth, die wie immer ohne Angst vor Peinlichkeit und ironiefrei das Publikum umarmte und ausrief, das Leben sei »viel zu bunt, um es nur schwarzgelb zu sehen«. Solch politischer Vitalismus hält zwar keinem Nachdenken stand, aber zeigte doch, was dem Tag ansonsten fehlte, nämlich etwas Lebensfreude und Übermut. Konzepte und Gesetzesvorschläge haben die Sozialdemokraten genug, für die politische Emotion bieten sie nichts. Das Parteilied mit dem Refrain »Mit uns zieht die neue Zeit« findet keine Entsprechung im Habitus. Es gibt keinen Stil und keine Kultur der Freude am Fortschritt und der Zuversicht. Dabei gilt, wenn man etwas Großes vorhat, wie zum Beispiel die mächtigste Frau Europas abzulösen, immer noch die alte Strategenweisheit, dass man dann gewonnen hat, wenn es gelungen ist, die Idee von der Unaufhaltsamkeit des eigenen Siegs in den Köpfen der Gegner einzupflanzen. Mitte April in Augsburg war dies nicht einmal in den Köpfen der Sozialdemokraten gelungen.
Bei einer Tasse Parteitagskaffee berichtete mir ein Steinbrück nahestehender Mann, der Kandidat sei am Vorabend nervös und niedergeschlagen gewesen. Und auch schon ein paar Tage zuvor, an einem Abend in Berlin. Er sei fertig gewesen und von Selbstzweifeln geplagt, mache sich Vorwürfe. Ihm als Freund habe er diese Depression ungeschützt offenbart, er habe sich da, gerade im Zusammensein mit einem Freund, einmal gehen- und fallenlassen können. Hätte man gern einen Freund, der solch eine Situation anderen Menschen erzählt?
Der Parteitag war ganz gut verlaufen, alle fragten sich, ob dies nun eine Wende sein könnte. Die Resonanz in den Zeitungen war zufriedenstellend, langsam brauchte man eine Umkehr der Abwärtsbewegung, sonst würden die Leute keine Nachrichten über die SPD mehr sehen wollen. Und es passierte tatsächlich etwas: Es ging noch weiter abwärts.
* * *
Sigmar Gabriel sitzt auf einer völlig leeren Terrasse auf dem leeren Marktplatz von Goslar in einem Fleck Sonne, die nicht wärmt. Es ist Mittwochvormittag, der Tag der Woche, an dem er sich um seine kleine Tochter kümmert. Gabriel trägt eine olivgrüne Jacke, ganz zivil, und will mir seine Heimatstadt zeigen. Er nennt die Kellnerin beim Vornamen, scherzt mit ihr und bekommt schon einen Cappuccino, obwohl offiziell noch gar nicht geöffnet ist. Die Touristen schlafen noch, eigentlich sind nur Rentner und Hausfrauen unterwegs.
Thema des Tages ist die Steuerfluchtaffäre des FC -Bayern-Präsidenten Uli Hoeneß. Der Skandal passt politisch sehr gut in das Thema der ungerechten Belastungen der Arbeitnehmer, denen die Steuern direkt vom Gehalt abgezogen werden, und der zahlreichen fiskalischen Vorteile für die sehr Reichen, aber die SPD kann die Affäre nicht zum Thema machen. Zwar ist der Manager ein ewiger Unterstützer der CSU , aber er ist eben auch ein Aufsteiger, ein Mann mit sozialem Gewissen und einer der beliebtesten Deutschen. Seine Steuerhinterziehung ist ein Verrat, aber man kann daraus keinen politischen Profit ziehen. Gabriel kennt Hoeneß, sie haben noch vor kurzem telefoniert. Ihn zum Symbol einer ungerechten Fiskalordnung zu machen, die Justiz wegen zu lascher Ermittlungen und eines Promibonus anzugreifen, all diese Optionen lässt die SPD ungenutzt. Letztlich dient die Erosion des Personals, dem die Leute noch Vertrauen schenken, niemandem, auch nicht der Opposition. Und es ist weder Gabriels noch Steinbrücks Stil, jemanden öffentlich auszugrenzen oder anzugreifen. Selbst mit Angriffen auf die Kanzlerin tun sie sich schwerer als mit Selbstkritik oder Kritik des jeweils anderen. Sie machen es sich überhaupt nicht leicht, man kann sogar sagen, dass sie es schwer haben, mit dem jeweils anderen, aber auch vor lauter Hadern mit sich selbst.
In den Monaten seit der Nominierung Steinbrücks hat die Öffentlichkeit viel mehr über Sigmar Gabriel erfahren. Dabei war er als Ministerpräsident von Niedersachsen Bundesumweltminister und Vorsitzender der SPD schon seit vielen Jahren eine öffentliche Figur, aber das Bild, das sich die Leute von ihm machen, ist nicht gut. In einem Artikel für die »Zeit« berichtete er dann von seinem verstorbenen Vater, der ein lupenreiner Nazi gewesen war. Als Erben fielen Sigmar Gabriel nun die vom Vater
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