Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
Gästen, der ihn stillen konnte.
Frappierend war wieder die unaufgeräumte Geschichte der jüngeren Zeit seit den neunziger Jahren: Oskar Lafontaine war im Film einfach weggelassen worden, als habe es ihn nie gegeben. Das war unsouverän, kleinlich und zeigte, wie die Partei noch mit der Spaltung zu hadern hat. Strahlender Gast in der ersten Reihe war die Bundeskanzlerin. Die Konkurrentin Steinbrücks gab sich bester Laune und munter wie ein Fisch im sozialdemokratischen Wasser. Ihr Platz war zwischen Gabriel und Martin Schulz, dem Präsidenten des Europaparlaments. Durch ihren hellen Blazer fiel sie auch optisch auf und wurde zum Zentrum aller Fotos. Eine kleine politische Spitze hatte es gegen sie gegeben, in der Rede von Hollande. Er sprach von der Notwendigkeit, gegen die endemische Jugendarbeitslosigkeit im Euroraum noch einmal Geld in die Hand zu nehmen und die Sparvorgaben entsprechend zu mildern. Das richtete sich gegen den Merkel’schen Kurs, denn die südeuropäischen Jugendlichen waren ihr bisher einigermaßen wurscht gewesen. Bei diesem Satz aber drehte sich die Kanzlerin heftig nickend zu ihren linken und rechten Nachbarn, ihre ganze Gestik und Mimik bekräftigte die Worte des Sozialisten, als wollte sie sagen: Ganz meine Meinung, endlich sagt es mal einer! Ebenso war es bei den historischen Themen und Kämpfen der SPD , der Ostpolitik, Entspannung, der Gleichberechtigung. Bei jedem einzelnen Thema fand sie eines ihrer Lebensanliegen wieder und gab sich begeistert.
Steinbrück kam, so wollte es das Protokoll, denn es war ja keine Wahlveranstaltung, nicht vor, außer in der winzigen Begrüßung durch Hannelore Kraft. So lag ein Hauch von Großer Koalition in der Luft. Merkel hatte schon so getan, als sei sie nach Gerhard Schröder die nächste SPD -Kanzlerin. Sie arbeitete auch inhaltlich daran: Fast jedes Thema hatte sie der Opposition abgenommen und zu einem ähnlich klingenden Vorschlag umgearbeitet. Als ich im Februar in einem ruhigen Moment überlegte und aufzählte, was die differenzierenden Punkte waren, kam ich auf eine Liste von sechs, von der Mietenkontrolle bis zur Homoehe. Ende Mai war davon kaum noch etwas übrig, auch wenn die Vorschläge der Union stets ohne Termine daherkamen und sich ganz anders anhörten als das, was dann wirklich drin war. Die Nuancen konnten von Amateuren kaum erkannt werden. Martins Mietproblem würde auch von der Union angegangen werden, irgendwann später – und wenn die Vermieter und die Makler es auch möchten.
Das erinnerte mich an die Taktik des früheren zairischen Diktators Mobutu. Der hatte Oppositionsparteien nicht etwa verbieten lassen, sondern hatte sich die gegenteilige Strategie überlegt: Er verdoppelte die Oppsition, d.h., er gründete eine neue Partei gleichen Namens mit seinen Gewährsleuten. Niemand konnte in dem riesigen Staat mehr unterscheiden, wer das oppositionelle Original und wer nur die Marionetten waren. Später hatte er sogar zwei Parlamente und zwei Regierungen, die parallel existierten. Nur wusste nie jemand, wer wann für was verantwortlich war. Allein der Herrscher blickte noch durch.
Am Vorabend hatte es einen Empfang in einem Museum gegeben. Als ich kam, stand Steinbrück umgeben von allgemeinem Desinteresse auf einer Bühne und sagte etwas. Die Akustik war denkbar ungeeignet, es klang, als sei er in einen Betonschacht gefallen. Er erzählte eine Churchill-Anekdote, das war kein gutes Zeichen. Das tut er immer, wenn ihm nichts weiter einfällt, die Situation aber erhöhte Unterhaltungskompetenz erfordert. Es waren internationale Gäste und Unterstützer versammelt, da hätte etwas Aufwühlendes, zur Mobilisierung Beitragendes nicht geschadet. Das Publikum war merkwürdig gemischt, reichte von chinesischen Politikern über Howard Dean zu Roland Kaiser. Gesine Schwan feierte an diesem Tag ihren 70 . Geburtstag, so wurde noch kurz ein Ständchen organisiert. Sie stand also mit ihrem Mann Peter Eigen und Steinbrück vor Max Beckmanns Gemälde »Die Schlacht«, auf dem sich die sterbenden Leiber winden, während ein Gesangsquartett a capella sang. Später löste sich dieses Fest auf oder zerfaserte, ich fand Steinbrück an einem Stehtisch. Es war niemand von den Gästen bei ihm, lediglich seine drei Personenschützer standen ihm gegenüber am Tisch. Steinbrück trank etwas, wirkte erschöpft, angespannt und insgesamt kreuzunglücklich. Er erzählte uns diesen Traum, der ihn noch mit über fünfzig nachts quälte: Letzter Tag
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