Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
imaginierte, historistische Rekonstruktion einer Pfalz. Im großen Saal hängen viele bunte Tafeln, die von Rübezahl bis zu Kaiser Wilhelm eine Kontinuität der deutschen Geschichte suggerieren sollen. Nur eine späte Nation und ein von Komplexen behaftetes junges Reich hatte es nötig, so in die historische Mottenkiste zu greifen, um Schlachten und Einigung in einem linearen Prozess abzubilden. Später besuchen wir die zahlreichen und völlig verschiedenen Kirchen und Museen.
Jede deutsche Provinzstadt ist auch eine kulturelle Hauptstadt. Der Föderalismus ist der beste Schutz gegen jeden Wahn, im Lande durchregieren zu können. Die deutschen Kaiser waren keine absolutistischen Herrscher, sie vermochten ja stets nur drei Dinge: Vermitteln, Vergessen und Verzeihen. Insofern ist Goslar ein ganz guter Ausgangspunkt für eine postheroische politische Karriere in Zeiten, in denen nicht mehr einer allein die Ansagen machen kann.
An jenem Tag stand Gabriels Entschluss fest, Steinbrück zu helfen. Mancher wird das als eine Art Drohung verstehen, wie wenn man als Kind »Dir werd’ ich helfen!« zu hören bekam. Aber Gabriels Kritik ist nicht illoyal, er betont eher die Stärken des Mannes, den er ja zum Kandidaten gemacht hat. Es gibt große taktische Unterschiede: Wo Steinbrück auf eine methodische und nuancierte Distanzierung von der Politik der Koalition setzt, treibt es Gabriel zur deutlich wahrnehmbaren Profilierung. Ihm würde es gefallen, nun jeden Tag eine politische Initiative, eine Kritik der Bundesregierung zu formulieren, um die Medien und die eigenen Leute auf Trab zu halten. Nach dem Motto: Wenn wir eine Forderung erheben, eine Initiative starten und ein Problem aufgreifen, füllen wir den Raum, den die Medien der SPD einräumen, und es bleibt kein Platz mehr für Pannensuche und Kreml-Astrologie.
Klar ist ihm an jenem Tag auch, dass eine allzu deutliche Niederlage Steinbrücks auch ihn hinwegfegen würde. Beinfreiheit hin oder her, der Vorsitzende der SPD hat niemanden, hinter dem er sich verstecken kann. Wenn es am Abend des 22 . Septembers gar zu wenig ist, ertönt noch während des Abends die Parole: »Erneuerung aus den Ländern!« Und da steht seit diesem Jahr ein ganz neues Set an politischem Personal bereit: Thorsten Schäfer-Gümbel, Stefan Weil, Thorsten Albig, Olaf Scholz und nicht zu vergessen Hannelore Kraft. Die aber, mit ihrer aggressiven Biederkeit, steht für eine andere SPD .
Wir verabschieden uns, nachdem er noch weiter über seine Familie geredet hat. Er wirkt privat zufrieden, politisch unruhig. Er möchte nun wirklich etwas anstoßen, um der Partei und dem Wahlkampf zu helfen. Wenig später wird er aus dieser Motivlage heraus seinen Vorstoß zur Einführung eines bundesweiten Tempolimits formulieren. Das sollte die Grünen und manchen vernünftigen Menschen freuen, aber nicht die deutschen Autobauer, die den industriellen Kern des Landes bilden. Steinbrück muss ihm offen widersprechen. Aus der fulminanten Unterstützung wird der erste offene politische Zwist. Es ist der erste, sanfte Vorbote eines schweren Erdbebens.
6 Bis einer heult
»Warum ist das denn jetzt noch so hell?«, fragt der Kandidat, als wir die Saarbrücker Kongresshalle verlassen. Es ist kurz vor 22 Uhr, und der Himmel im Westen, über Burbach, ist violett. Steinbrück fragt nach dem Datum und murmelt: »Nur noch einen Monat bis zum längsten Tag.«
Das erste halbe Jahr war fast um, die Zeit, noch etwas zu drehen, wurde knapp. Nach wie vor glichen die Umfragen einem teuflischen Sudoku. Als die Deutschen jetzt, in den verregneten Wochen mit den vielen Feiertagen, gebeten wurden, sich vorzustellen, dass am kommenden Sonntag Bundestagswahl sei, gaben sie launische Antworten. Man brauchte immer länger, um aus diesen Meinungsflecken ein Bild zu machen, ihnen eine Botschaft zu den gewünschten Geschicken des Landes zu entnehmen.
Dabei sind die so schön zu messenden und darzustellenden Daten der Demoskopen eine der wenigen festen Größen, auf die sich sowohl Politiker wie auch die Medien verlassen können. Der Reiz der Zahlen wird durch die digitalen Darstellungsmöglichkeiten immer größer. Da hat man Tortendiagramme, Fließbewegungen, was das Herz begehrt. Es verleiht der ganzen Deutungswirtschaft einen Hauch von Naturwissenschaft, als handele es sich bei Umfragen um Versuchsreihen, an deren Ende ein ableitbares und, wie es so schön heißt, »belastbares« Ergebnis steht. Als wäre die Unvorhersehbarkeit
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