Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
früheren Personal, den Helden von Rotgrün. Steinbrück schindet keine Mitarbeiter. Das Nashorn ist definitiv das falsche Symboltier für ihn. Aber die Vorzüge, die ihn von den Machos der früheren rot-grünen Ära unterscheiden, werden ihm dieses Mal nicht gutgeschrieben
Den Tag über ist Peer Steinbrück, nun da die heiße Phase des Wahlkampfs begonnen hat, mehr denn je Akrobat, Schauspieler und Entertainer. Aus seinen Anlagen – ein rundlicher weißer Mann fast ohne Haare im Rentenalter – macht er so viel, dass es zu einer sehr guten politischen Show reicht. Reicht es auch, um eine amtierende Kanzlerin abzulösen, eine der diffizilsten Aufgaben eines jeden politischen Systems?
Nach dem Auftritt in Hannover leerte sich die Fußgängerzone, die Geschäfte schlossen, ich wanderte noch etwas durch die Stadt. Am Ende der Fußgängerzone wurde es grüner, da war der Landtag. Und noch weiter zur Stadt hinaus, hinter einer vielspurigen Kreuzung hörte ich das Hämmern von Bauarbeiten. Hinter einigen Bäumen wurde ein echtes Zirkuszelt aufgebaut. Ein paar lustlose Arbeiter werkelten seinsvergessen, sie ließen sich Zeit, es wurde schon fast dunkel. Am folgenden Tage sollte hier der »Chinesische Staatscircus« auftreten, selbst diese älteste westliche Form der populären Massenunterhaltung war also globalisiert. Das war die eine Nachricht. Die andere war, dass es den Zirkus noch gab, diese Männer arbeiteten hier, und es sah nicht so aus, als pflegten sie nur ein Hobby.
Mit P. T. Barnum, Buffalo Bill, Carl Hagenbeck und in den großen französischen Dynastien waren Zirkusse an der Herausbildung einer populären Massenunterhaltung wesentlich beteiligt. Obwohl die Programme nach heutigem Verständnis von Rassismus und Klischeedenken geprägt waren und die Zurschaustellung von exotischen Menschen und Tieren heute zum Glück verboten ist, wehte auch ein Hauch von Aufklärung durch den frühen Zirkus. In einer Rede als Abgeordneter begründete P. T. Barnum seine Zustimmung zum Verbot der Sklaverei: »Die menschliche Seele ist keine Handelsware!«
Noch in meiner Kindheit kreuzten beeindruckende Truppen durch die französischen Badeorte. Sie hatten viele einheitlich lackierte Sattelschlepper, riesige Zelte, extralange Wohnmobile, da war eine Kleinstadt unterwegs. Und sie führten eine echte Menagerie mit sich, einen kleinen Zoo, einmal sogar mit Eisbären, für die es heute keine Genehmigung mehr gäbe. Und es war voll, die Generationen mischten sich, es war eine laute Sache, alle Effekte waren analog, das Staunen galt dem Training des menschlichen Körpers und atemberaubender Anmut. Der Zirkus war eine wichtige Sache, auch später noch, in den frühen Zeiten des Fernsehens, als Stars erst in die Manege mussten, um zu beweisen, dass sie auch welche waren. Erst wer im runden sandigen Boden den Blick der Zuschauer halten und ihm standhalten konnte, erst wer ein wirkliches Risiko eingegangen war, wer in hoher Höhe gezittert hatte oder Auge in Auge mit einem Raubtier stehen musste, war ein echter Unterhalter. Es war Unterhaltung, die voraussetzungs-, aber nicht anspruchslos war und so alt wie die westliche Demokratie selbst. Heute haben einerseits der Sport, andererseits Filme und Serien diese Form der Massenunterhaltung abgelöst. Der Zirkus ist noch da, aber nicht mehr so wichtig, niemals würde sich das Leben einer Region danach richten, ob er in der Stadt ist oder nicht, wie im frühen Saargebiet, als fast 10 Prozent der Bevölkerung sich beeilten, um Buffallo Bill und seine Truppe zu sehen, die in einem Sonderzug angereist waren.
Heute wird der Zirkus am Leben gehalten durch einige wenige Baby Boomer, André Heller beispielsweise oder die von Cirque du Soleil, aber sie leben von der Nostalgie und dem guten Willen des Publikums, das in Kindertagen noch den großen alten Zirkus erlebt hat.
Das lieblos gemachte Plakat der Chinesen evozierte umständlich und zugleich vage das Programm, irgendetwas »nach einer wahren Geschichte aus dem Bilderbuch«.
Die Analogie zum Bundestagswahlkampf war bitter, aber nicht von der Hand zu weisen. Der Wahlkampf war etwas Optionales geworden, dem sich nur noch die Motivierten und Gutwilligen zuwandten. Viele erklärten, sie wollten weder wählen gehen noch würden sie sich für die Sache interessieren. Die Akrobatik war nach wie vor vollendet, aber der Rahmen war antiquiert und lebte von der Nostalgie derer, die als Kinder und Jugendliche von den großen Shows der
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