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Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Titel: Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nils Minkmar
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bundesrepublikanischen Demokratie beeindruckt worden waren. Die Plakate, die Musik, die Truppe waren alle vorhanden, aber ebenso gut hätte man sie auch völlig ignorieren können, ohne Gefahr einer sozialen oder kulturellen Diskriminierung zu laufen. Es war etwas für Liebhaber, ein interessanter kultureller Steinbruch, aus dem sich manche Motive entleihen ließen, etwa in der Werbung oder für Fernsehkulissen. Aber eine Relevanz, eine die Schichten, Cliquen und Milieus transzendierende Brisanz, eine die Leute dann wirklich beschäftigende soziale Bindewirkung, die gibt es nicht mehr. Auch im Bundestagswahlkampf wird eine wahre Geschichte aus dem Bilderbuch erzählt, aber die, die dabei sind, bringen schon ein Wohlwollen mit, sehen das Spektakel mit einem Halo, den sie aus ihren Erinnerungen projizieren.
    Auch am folgenden Tag würden sich in Hannover die Akrobaten ins Zeug legen, würden schwitzen, sich verdrehen und verbeugen, um den Leuten zu gefallen, doch die Gedanken der erwachsenen Zuschauer würden dennoch woandershin wandern, dorthin, wo das wahre Leben ist. Auch wenn die Akrobaten es so gut machen wie nie, wie kein anderer vor ihnen, würden sie damit nicht in die Zeitung, nicht in die Nachrichten kommen. Es sei denn, einer stürzt ab.
     
    Wer Steinbrück nicht persönlich erleben konnte, trotz der fast achtzig Termine, die er in dem verbleibenden Monat noch zu absolvieren hatte, der konnte den Fernsehwerbespot sehen. Der Spot der Union war schon gleich nach seiner ersten Präsentation legendär: Der kurze Film zeigte Merkel, nichts als Merkel und den ganzen Bildschirm voller Merkel, man sah sie in extremer Nahaufnahme, als sei man mit ihr verwandt. Es war ein Film wie ein warmes Vollbad, ruhig, warmherzig und in tröstender Tonlage gehalten. Mit Bernsteinkette und zurückhaltender Kleidung wirkte die Bundeskanzlerin fast großmütterlich. Wenn der Zuschauer von einem harten, langen Tag oder einer einsamen Reise nach Hause kam, mit der Tasche voller verbrauchter Wäsche, den nassen Regensachen und den schweren Schuhen, konnte er hier, an einem Ort, der vielleicht das Bundeskanzleramt, vielleicht auch einfach eine Praxis war, zur Ruhe kommen. Sie redete mit uns wie die nervenstarke Therapeutin mit einem Wiederholungstäter, einer tickenden Zeitbombe, einem, der völlig den Faden verloren hat. Doch ihre beschwörenden Worte erinnerten uns: »Das haben wir gemeinsam geschafft, das darf jetzt nicht aufs Spiel gesetzt werden.« Betroffen wandert der Blick des Fastenden auf Plastiktüten voller Würstchen im Glas.
     
    Die dominierenden Farben schimmern von links: Der Blazer rot, das Licht orange. Bei den Stichworten gute Arbeit und Fairness, zwei starken Claims der SPD der Gabrielzeit, fühlt man sich gut und sicher in der starken Gemeinschaft der Sozialdemokratie aufgehoben, alle politisch Andersdenkenden werden von der Bernsteinkette gebannt. »Das Richtige« hat sie vorgegeben, darum geht es nun bei unserem Gespräch. Aber puh, wen stresst diese Vorgabe in diesen Zeiten nicht? Was ist schon das Richtige? Sie hilft mit der Definition: »Was den Menschen nützt«. Wem auch sonst – was den Waschbären nützt? Man ist sofort an ihrer Seite, denn Maschinen oder Märkten wollte man ja nicht helfen. Mit dem Problem, dass manche Entscheidungen nicht allen Menschen gleich gut nützen, verwirrt sie uns lieber nicht. Wir müssen in einem schlimmen Zustand sein. Sie hat offenbar eine Ahnung vom Richtigen, und es fühlt sich nicht komisch an, hier mit ihr zu sitzen. Es geht auch mal nach draußen, Blick über die Stadt, Luft schnappen. Es ist nicht stickig oder spießig hier drin. Aber was will sie eigentlich? Bei zu viel Wohlgefühl schöpft der moderne Mensch Verdacht: Was wird nun von mir erwartet? Alles ändern, nie wieder Fleisch, nie wieder dumme Gedanken, das Ende der Faulheit? Sie sagt ja immer: »Gemeinsam machen wir das.« Ihren Part daran sehen wir in den Nachrichten, lesen wir in Zeitungen und auf Websites: Sie macht nur das, arbeitet und regiert Tag und Nacht seit Menschengedenken. Sollen wir das jetzt etwa auch? Weit gefehlt? Sie möchte bloß »Unterstützung«. Und diese Unterstützung braucht sie auch nur an einem einzigen Tag, Ende September. Mehr möchte diese nette Dame nicht von uns – der nächste Termin mit ihr ist erst in vier Jahren.
     
    Ein ganz anderer Termin ist der, zu dem die Sozialdemokraten einladen. Das heißt, sie laden sich selber bei Leuten ein, fremden Leuten, die so sein

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