Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
sollen wie du und ich, es aber natürlich nicht sind. Wenn man hören möchte, warum man SPD wählen soll, hört man zunächst, was Bürgerinnen und Bürger auf eine ganz andere Frage antworten, nämlich: »Was wünschen Sie sich von der Politik?«
Was zuallererst schockiert, ist das Land: Deutschland ist in diesem kurzen Film leer und einsam. Die Testimonials wurden an Wohn-, Arbeits- und Sportstätten aufgezeichnet, aber außer der sprechenden Person ist da niemand. Dann tragen Menschen ihre Sorgen vor. Wir sehen Menschen, die wir nicht kennen, hinter einem roten Pult stehen und völlig einsam über Probleme reden. Sie besprechen diese Gedanken nicht im Familien- oder Freundeskreis, nicht am Stammtisch oder im Verein, sondern reden in eine Kamera, die nicht antwortet. Was wünschen Sie sich von der Politik? Der eine wünscht sich mehr Klartext, der andere kritisiert das Aufstocken, und zuletzt kommt einer ins Bild, der wünscht sich, Bundeskanzler zu werden. Der Zuschauer muss in dem kurzen Spot also erst einmal das Konzept kapieren: Bürger werden gefragt, das ist irgendwie ins Wahlprogramm der SPD eingeflossen, und der Mann am Schluss hat auch etwas damit zu tun. Obwohl es die Partei der Solidarität ist, der Slogan das Wir preist, vermittelt der Spot keine Anmutung von der Schönheit der Gemeinschaft, von der Communitas. Man erfährt kaum etwas über den Kandidaten, obwohl der doch vielen Wählern völlig oder größtenteils unbekannt ist.
Die eingangs formulierte Frage aber stellt sich der Zuschauer nicht, das fragt sich höchstens die Spitze der SPD : Was wollen die Leute eigentlich von uns? Der Zuschauer hat eine ganz andere, simple Frage: Warum soll ich am 22 . September eigentlich SPD wählen? Die Union beantwortet das mit der Kanzlerin: Weil diese sympathische Frau das so gerne möchte und ich sonst einen schlimmen Rückfall erleide. Die SPD macht es umgekehrt: Ich muss erklären, wie eine SPD sein müsste, die ich wählen würde. Sie macht ihr Problem zu meinem, wie ein manipulativer Versicherungsvertreter.
Weit davon entfernt, den Zuschauer zu entlasten, indem man ihm versichert, er tue schon das Richtige, verzettelt sich der Spot in einer Verfahrensweise und dann in diversen Einzelthemen, zu denen jeder eine Meinung hat, die aber von der Kanzlerin pauschal unter »Fairness« abgeräumt werden.
Und am Schluss der Kandidat, völlig allein. Wenn das Wir entscheidet, warum ist er dann immer, immer allein?
11 Showdown in Adlershof
Kurz vor Mitternacht in Berlin, ein scharfer Nachtwind zerzaust alle Haare. Peer Steinbrück kann es egal sein, ausgelassen steht er auf nassen schwarzen Pflastersteinen in der Nähe der Spree und trinkt ein Glas Weißwein. Über sieben Millionen Fernsehzuschauer, das gesamte politische Berlin, alle deutschen Journalisten haben an diesem Abend das Fernsehduell verfolgt. Die Anhänger der SPD haben sich im Radialsystem versammelt, einem stimmungsvollen, mittelhippen Veranstaltungsort am Wasser, ganz in der Nähe des Berliner Ostbahnhofs. Unmittelbar nach der Sendung ist Steinbrück hierhin gekommen, um sich für die Unterstützung zu bedanken. Jetzt, etwa zwei Stunden später, harren nur noch wenige dort aus. Die Gespräche drehen sich längst nicht mehr um den Abend, um Prognosen und die Schwächen der Gegner, die Stärken des eigenen Lagers, seine Verräter. Andere Themen kommen wieder zu ihrem Recht. So ist Peer Steinbrück, zwei Stunden nachdem die Kameras von vier Sendern auf ihn gerichtet waren, damit beschäftigt, Studienberatung zu betreiben. Eine junge Schauspielerin, die zum Kreis der Unterstützer gehört, interessiert sich für Entwicklungshilfe und Korruptionsbekämpfung. Andere haben ihr dieses und jenes empfohlen, nun würde sie gerne hören, was Steinbrück ihr rät. Er folgt geduldig den Exkursen und dialektischen Erörterungen der jungen Frau, die sich selbstbewusst und ratlos zugleich gibt. Er gibt Einschätzungen, rät zu und ab. Er wirkt erleichtert, einmal über einen anderen Berufsweg reden zu können als seinen eigenen, über akademische Lebenswege statt über politische. Und er wirkt dabei konzentriert und leicht euphorisch, wie jemand, der gerade dem Tod von der Schippe gesprungen ist.
In diesem Wahlkampf ist alles anders: Er beginnt mit dem Ende. Im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen bereiten sich an jenem Sonntag die Menschen mit schulpflichtigen Kindern auf den ersten Montag im neuen Schuljahr vor, suchen
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