Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
Hefte und Stifte zusammen, fluchen beim Einschlagen der neuen Bücher, brüten über Stundenplänen und einer Struktur für die Woche, nehmen Abschied von den Ferien und entdecken nicht nur Spekulatius in den Supermarktregalen, sondern stellen mit Erstaunen fest, dass offenbar Wahlkampf ist. Und wo dieser gerade ein wenig begonnen hat, folgt auch schon am selben Abend das sogenannte Fernsehduell der beiden Spitzenkandidaten. Üblicherweise steht so etwas am Ende oder zumindest in der Mitte der Wahlkampfsaison und die Zuschauer haben schon vorher Gelegenheit, sich ein Urteil zu bilden oder überhaupt zu realisieren, was los ist. Es ist, als würde man das Abendessen mit einer Sahnetorte eröffnen.
Und mit was für einer! Wahlkampf im größten Land der Europäischen Union, mit einer reichen und wachen Medienlandschaft, regen Verbänden und einem immer noch beachtlichen Kern sehr interessierter und aktiver Bürger, das ist an so einem Abend, im medienoptimierten Duellformat zwischen zwei Personen, die größtmögliche Show, unser Circus Maximus. Zunächst einmal ist dies ein unfassbarer Aufwand an Werbemitteln, Personal, Planung, Geld und Strom. Wenn man sich aber dann dem Ort des Geschehens, dem Studiogelände in Berlin-Adlershof, nähert, ist es, wie immer in der bundesdeutschen Demokratie, bei allem Aufwand ein bisschen trist. Niemand singt oder steigert sich in einen partisanen Rausch wie in Frankreich. Es ist still und beklemmend. Je näher man kommt, desto mehr entfernt man sich vom Leben. Solange die Kameras noch nichts aufzeichnen, ist das doch nur ein Vorort an einem frühen herbstlichen Sonntag, an dem einige Unglückliche zu arbeiten haben. So auch der Parkplatzwächter, der das Bilderbuchexemplar einer Vokuhila-Frisur trägt und irgendwie nicht mitbekommen hat, was am Abend gesendet wird: »Wollt ihr auch zu The Voice?«, fragt er ganz geschäftsmäßig. Sonst wird sonntags immer diese Show aufgezeichnet, das Publikum kommt in vielen Bussen angereist. Heute sind es eher Kleinbusse. Ich teile mir einen mit Heiko Geue, dem Wahlkampfleiter von Peer Steinbrück, mit Peter Illmann und dem Ministerpräsidenten von Schleswig Holstein. Wir verkürzen uns die Fahrt mit Prognosen zum Wahlausgang und Diskussionen zu Wahlplakaten und Werbespots. In Wahrheit sind alle nervös. Falls er es nicht weit besser macht als die Bundeskanzlerin oder sich gar an einem Punkt verheddert, einen Hänger hat oder sich in einer Sachfrage irrt, droht ein Desaster, das nicht nur ihn, sondern auch jeden seiner Mitarbeiter und Unterstützer empfindlich demütigen dürfte. Und so viele sind es nicht. Die Union hat die wichtigsten Minister, ehemalige Parteigrößen und die saarländische Ministerpräsidentin mobilisiert und nach Adlershof transportiert. Von der SPD sind nur die Generalsekretärin und Torsten Albig, Ministerpräsident in Kiel, da. Und Klaus Staeck.
Die politische Ausgangslage war wie an jenem Abend in Braunschweig, obwohl damals Schnee lag und nun schon wieder der Herbst zu ahnen ist. Es war dieselbe Asymmetrie: Steinbrück riskierte bei einem enttäuschenden Abschneiden alles, konnte aber bei gutem Ausgang des Abends nicht hoffen, die Wahl zu gewinnen. Dennoch war das Fernsehduell der mit Abstand wichtigste Moment des Wahlkampfs. Heute war endlich der Planet Merkel in erreichbarer Nähe, schon das gab Hoffnung. Und es war die Gelegenheit, den Filter loszuwerden, sich ohne deutende Kommentare direkt an die Wähler zu wenden, diese Kandidatur aus der Zone des Lächerlichen zu manövrieren.
Es gab aber auch Beispiele für ein Fiasko: Als der Spitzenkandidat der Hamburger SPD , Michael Naumann, unter großem Druck, unter Schlafmangel leidend, dehydriert und unterzuckert zum Duell gegen Ole von Beust antrat, verhaspelte er sich beim Abschlussstatement so rettungslos, dass er gleich nach Ende der Sendung zu seinem Kontrahenten sagte: Nun haben Sie gewonnen. Und Peer Steinbrück stand heute unter einem noch weit größeren Druck und war seit Monaten nahezu ununterbrochen auf Tour.
Erfolg oder Blamage liegen bei einem Fernsehduell besonders nah beieinander. Oft entscheiden winzige, externe Faktoren. Legendär ist das Duell Kennedy gegen Nixon, bei dem Nixon eine schlechten Eindruck machte, weil er sich zuvor nicht noch einmal rasiert hatte. Aber es gibt auch andere Beispiele: Al Gore war ein klarer Favorit für die amerikanische Präsidentschaftswahl 2000 . Kurz vor dem entscheidenden Fernsehauftritt gegen George W. Bush
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