Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
Vom Netzwerk:
Privatangelegenheiten um.«
    »Ich auch«, sagte Janice hastig. »Ich meine, als ich auch jung war. Das müsste etwa zur selben Zeit gewesen sein.« Merrill warf ihr einen Blick zu, und da Janice darin einen Vorwurf las, fügte sie hinzu: »Aber natürlich in einem anderen Teil der Welt.«
    »Tom hat immer gesagt, man erkennt sie an ihrem Gang. Nicht, dass es mir etwas ausmacht.« Es schien Merrill aber doch ein wenig auszumachen.
    »Wie gehen sie denn?« Bei der Frage fühlte sich Janice in ihre Jugend zurückversetzt, in die Zeit vor ihrer Ehe.
    »Ach, du weißt schon«, sagte Merrill.
    Janice sah zu, wie Merrill einen Happen von ihrem pochierten Ei aß. Falls das eine Andeutung gewesen sein sollte, dann hatte sie die nicht verstanden. Sie hatte nicht darauf geachtet, wie der Kellner ging. »Nein, weiß ich nicht«, sagte sie, wobei sie ihre Unwissenheit als sträflich, fast schon infantil empfand.
    »Die wackeln so mit den Händen«, wollte Merrill sagen. Stattdessen drehte sie, ganz gegen ihre Art, den Kopf und rief »Kaffee«, was Janice ebenso überraschte wie den Kellner. Vielleicht wollte sie, dass er es ihnen vorführte.
    Als Merrill sich umwandte, hatte sie ihre Gelassenheit wieder gefunden. »Tom war in Korea«, sagte sie. »Eichenlaub am Bande.«
    »Mein Bill hat seinen Wehrdienst abgeleistet. Nun ja, damals mussten das alle.«
    »Es war so kalt, dass sich der Tee in einen Becher braunes Eis verwandelte, wenn man ihn auf die Erde stellte.«
    »Suez hat er verpasst. Er war bei der Reserve, aber sie haben ihn nicht eingezogen.«
    »Es war so kalt, dass man sein Rasierzeug aus dem Behälter nehmen und in warmes Wasser stecken musste, bevor man es benutzen konnte.«
    »Er hat sich da recht wohl gefühlt. Er fand immer leicht Anschluss, mein Bill.«
    »Es war so kalt, dass sich die Haut ablöste, wenn man die Hand auf einen Panzer legte.«
    »Wahrscheinlich leichter als ich, um ehrlich zu sein.«
    »Sogar das Benzin ist eingefroren. Das Benzin.«
    »Wir hatten einen sehr kalten Winter bei uns in England. Gleich nach dem Krieg. Sechsundvierzig, glaube ich, oder vielleicht auch siebenundvierzig.«
    Merrill wurde plötzlich ungehalten. Was hatte das, was ihr Tom durchgemacht hatte, mit einer Kälteperiode in Europa zu tun? Also wirklich. »Wie ist dein Granola?«, fragte sie.
    »Schwer zu kauen. Ich hab so einen blöden Backenzahn.« Janice klaubte eine Haselnuss aus dem Schälchen und schob sie beiseite. »Sieht ein bisschen aus wie ein Zahn, nicht?« Sie kicherte auf eine Art, die Merrill noch mehr aufbrachte. »Was hältst du von diesen Implantaten?«
    »Tom hatte noch alle Zähne im Mund, als er starb.«
    »Bill auch.« Das entsprach ganz und gar nicht der Wahrheit, aber es wäre ihr wie Verrat vorgekommen, etwas anderes zu behaupten.
    »Sie konnten keine Schaufel in die Erde kriegen, um ihre Toten zu begraben.«
    »Wer?« Unter Merrills starrem Blick kam Janice dann doch darauf. »Ach ja, natürlich.« Sie merkte, wie sie in Panik geriet. »Nun, in gewisser Hinsicht war das wohl auch egal.«
    »In welcher Hinsicht?«
    »Ach, nichts.«
    »In welcher Hinsicht?« Merrill sagte – sich selbst wie auch anderen – gern, sie halte zwar nichts von Streit und Unannehmlichkeiten, aber sie halte sehr wohl etwas davon, klare Verhältnisse zu schaffen.
    »In … also, die … Leute, die sie da begraben wollten … wenn es so kalt war … du weißt schon, was ich meine.«
    Merrill wusste es, wollte aber nicht so schnell nachgeben. »Ein wahrer Soldat begräbt immer seine Toten. Das solltest du doch wissen.«
    »Ja«, sagte Janice und dachte an Der schmale Grat , mochte aber nicht wieder davon anfangen. Komisch, dass Merrill sich großspurig als Kriegerwitwe aufspielen wollte. Janice wusste, dass Tom seinen Wehrdienst abgeleistet hatte. Janice wusste auch noch anderes über Tom. Was man auf dem Campus über ihn geredet hatte. Was sie mit eigenen Augen gesehen hatte.
    »Ich habe deinen Mann natürlich nie kennen gelernt, aber alle hatten eine so hohe Meinung von ihm.«
    »Tom war wunderbar«, sagte Merrill. »Er war der Mann meines Lebens.«
    »Er war sehr beliebt, hieß es von allen Seiten.«
    »Beliebt?«, wiederholte Merrill, als sei das Wort in diesem Fall seltsam unangemessen.
    »So hieß es allgemein.«
    »Man muss den Blick in die Zukunft richten«, sagte Merrill. »Man muss ihr ins Auge sehen. Etwas anderes gibt es nicht.« Das hatte Tom zu ihr gesagt, als er starb.
    Besser der Zukunft ins Auge sehen als der

Weitere Kostenlose Bücher