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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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Vergangen heit, dachte Janice. Ob Merrill wirklich keine Ahnung hatte? Janice erinnerte sich an einen zufälligen Ausblick aus einem Badezimmerfenster, unten hinter einer Hecke ein rotgesichtiger Mann, der sich den Reißverschluss aufzog, eine Frau, die die Hand ausstreckte, der Mann drängte sich an ihren Kopf, die Frau wehrte ab, ein pantomimischer Streit, während unter ihr der Partylärm dröhnte, der Mann legte der Frau die Hand in den Nacken, drückte sie nach unten, die Frau spuckte dem Mann auf sein Ding, der Mann schlug auf ihren Kopf ein, alles in etwa zwanzig Sekunden, ein Kabinettstück von Begierde und Wut, das Paar ging auseinander, der Kriegsheld und Mann des Lebens und berühmte Campus-Fummler zog seinen Reißverschluss wieder zu, jemand rüttelte an der Türklinke zum Badezimmer, Janice fand den Weg nach unten und bat Bill, sie umgehend nach Hause zu bringen, Bill machte eine Bemerkung über ihre Gesichtsfarbe und stellte Vermutungen an, sie müsse wohl noch ein, zwei Gläser hinter seinem Rücken getrunken haben, Janice schrie ihn im Auto an und entschuldigte sich dann. Im Laufe der Zeit hatte sie diese Szene gewaltsam verdrängt, hatte sie im hintersten Winkel ihres Gedächtnisses versteckt, fast so, als ginge es dabei in gewisser Weise um Bill und sie selbst. Dann, als Bill tot war und sie Merrill kennen lernte, gab es noch einen Grund mehr, die Szene vergessen zu wollen.
    »Die Leute meinten, ich würde nie darüber hinwegkommen.« Merrills ganzes Verhalten erschien Janice ungeheuer selbstgefällig. »Das ist die Wahrheit. Ich werde tatsächlich nie darüber hinwegkommen. Er war der Mann meines Lebens.«
    Janice strich Butter auf ein Stück Toast. Wenigstens wurde einem hier der Toast nicht schon gebuttert serviert wie in manchen anderen Lokalen. Das war noch so eine amerikanische Sitte, an die sie sich nicht gewöhnen konn te. Sie wollte den Deckel von einem kleinen Honigtöpf chen abschrauben, doch ihr Handgelenk war zu schwach dazu. Dann versuchte sie es mit dem Brombeergelee, mit ebenso wenig Erfolg. Merrill schien nichts zu merken. Ja nice schob sich ein Dreieck von Toast ohne Aufstrich in den Mund.
    »Bill hat in dreißig Jahren nie eine andere Frau angeschaut.« Aggressionen waren Janice hochgekommen wie ein Rülpser. Sie stimmte anderen Leuten bei einem Gespräch lieber zu, sie wollte gern gefällig sein, aber manchmal fühlte sie sich so unter Druck, dass sie Sachen sagte, über die sie selbst staunte. Nicht über die Sachen an sich, sondern dass sie sie aussprach. Und als Merrill nicht reagierte, musste sie hartnäckig bleiben.
    »Bill hat in dreißig Jahren nie eine andere Frau angeschaut.«
    »Du hast sicher Recht, meine Liebe.«
    »Als er starb, war ich untröstlich. Absolut untröstlich. Ich dachte, mein Leben sei vorbei. War es ja auch. Ich versuche, mich nicht zu bemitleiden, ich sorge dafür, dass ich Unterhaltung habe, nein, wahrscheinlich ist Ablenkung der bessere Ausdruck, aber im Grunde weiß ich, dass das mein Schicksal ist. Ich habe mein Leben gelebt, und jetzt habe ich es begraben.«
    »Tom hat immer gesagt, wenn er mich nur am anderen Ende eines Zimmers sieht, macht sein Herz einen freudigen Sprung.«
    »Bill hat unseren Hochzeitstag nie vergessen. Dreißig Jahre. Kein einziges Mal.«
    »Tom hat sich so etwas wunderbar Romantisches aus gedacht. Wir sind übers Wochenende verreist, in die Berge hoch, und er hat uns im Hotel unter falschem Namen an gemeldet. Wir waren dann Tom und Merrill Humphreys oder Tom und Merrill Carpenter oder Tom und Merrill Delivio, und das haben wir das ganze Wochenende lang durchgehalten, und bei der Abreise hat er bar bezahlt. Das machte alles so … aufregend.«
    »Einmal hat Bill so getan, als hätte er ihn vergessen. Keine Blumen am Morgen, und er sagte, er müsse Überstunden machen und werde im Büro einen Happen essen. Ich hab versucht, nicht daran zu denken, aber ein bisschen traurig war ich doch, und am Nachmittag kam dann plötzlich der Anruf von dem Chauffeur-Service, die wollten noch einmal bestätigen, dass sie mich um halb acht abholen und zum French House bringen würden. Kannst du dir das vorstellen? Er hatte es sogar so arrangiert, dass sie mir ein paar Stunden vorher Bescheid sagten. Und er hatte seinen besten Anzug mit ins Büro geschmuggelt, ohne dass ich es merkte, damit er sich dort umziehen konnte. Was für ein Abend. Ah.«
    »Ich hab mir immer besondere Mühe gegeben, bevor ich ins Krankenhaus ging. Ich hab mir gesagt,

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