Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
Vom Netzwerk:
sie sicher sei, dass es sein Kind sei. Als er ihre Zusicherung hörte – oder genauer gesagt, den Tonfall ihrer Zusicherung, der nichts von der Vehemenz einer Lüge hatte –, erklärte er sich bereit, das Kind zu einer Amme zu geben und für seinen Unterhalt zu sorgen. Die erstaunliche Liebe, die er mittlerweile für Jeanne empfand, behielt er für sich. Seiner Auffassung nach ging sie das im Grunde nichts an; es betraf ihn, nicht sie, und er meinte auch, wenn er seinen Gefühlen Ausdruck gäbe, könnten sie vergehen oder auf eine Weise kompliziert werden, nach der er kein Verlangen hatte. Er gab Jeanne zu verstehen, dass sie sich auf ihn verlassen könne; das war genug. Ansonsten freute er sich an seiner Liebe als einer Privatangelegenheit. Es war ein Fehler gewesen, Lagrange davon zu erzählen; ohne Zweifel wäre es ein Fehler, noch jemand anderem davon zu erzählen.
    Einige Monate darauf verstarb Lagrange als sechsunddreißigstes Mitglied der Tontine. Da Delacour nieman dem von ihrem Zerwürfnis erzählt hatte, fühlte er sich verpflichtet, zur Beerdigung zu gehen. Während der Sarg hinabgesenkt wurde, bemerkte er zu Madame Amélie: »Er hat nicht genügend auf sich geachtet.« Als er aufschaute, sah er, ganz hinten in einer Gruppe von Trauergästen auf der anderen Seite des Grabes, Jeanne stehen, das Kleid nun dick und rund gebauscht.
    Das Ammengesetz war in seinen Augen wirkungslos. Dabei waren die Bestimmungen vom 29. Januar 1715 durchaus klar. Ammen durften bei Androhung einer Besserungsstrafe für die Frau und einer Geldbuße von 50 Francs für ihren Mann nicht zwei Säuglinge zugleich nähren; sie waren verpflichtet, eine eigene Schwangerschaft zu melden, sobald der zweite Monat erreicht war; desgleichen war ihnen verboten, einen Säugling in das Elternhaus zurückzuschicken, selbst im Falle unterlassener Zahlungen, stattdessen hatten sie ihre Dienste fortzusetzen und sich später vom Polizeitribunal entlohnen zu lassen. Und doch wusste jeder, dass auf diese Frauen nicht immer Verlass war. Sie trafen Vereinbarungen hinsichtlich anderer Säuglinge; sie logen über das Stadium ihrer Schwangerschaft; und wenn es zwischen Eltern und Amme zu Streitigkeiten über die Bezahlung kam, überlebte das Kind oftmals nicht die folgende Woche. Vielleicht sollte er Jeanne doch erlauben, ihr Kind selbst zu stillen, so wie sie es wollte.
    Bei ihrem nächsten Zusammensein äußerte Delacour seine Verwunderung über ihre Anwesenheit am Grab. Soweit er wusste, hatte Lagrange niemals von seinem Recht auf Benutzung des städtischen Badehauses Gebrauch gemacht.
    »Er war mein Vater«, antwortete sie.
    Über Vaterschaft und Kindschaftsverhältnis, dachte er. Dekret vom 23. März 1803, verkündet am 2. April. Kapitel eins, zwei und drei.
    »Wie?« war alles, was er herausbrachte.
    »Wie?«, wiederholte sie.
    »Ja, wie?«
    »Auf die übliche Art, nehme ich an«, antwortete das Mädchen.
    »Ja.«
    »Er pflegte meine Mutter zu besuchen wie …«
    »Wie ich dich besuche.«
    »Ja. Er hatte mich sehr gern. Er wollte mich anerkennen, wollte mich …«
    »Für ehelich erklären?«
    »Ja. Meine Mutter wollte das nicht. Es kam zu einem Streit. Sie fürchtete, er werde versuchen, mich ihr fortzunehmen. Sie behütete mich gut. Manchmal spionierte er uns nach. Als meine Mutter starb, musste ich ihr versprechen, ihn nie zu empfangen oder Kontakt zu ihm zu haben. Ich versprach es. Ich dachte nicht, dass … dass die Beerdigung als Kontakt gelten kann.«
    Jean-Etienne Delacour saß auf dem schmalen Bett des Mädchens. In seinem Innern war etwas ins Wanken geraten. Die Welt war nicht so vernünftig eingerichtet, wie sie sollte. Dieses Kind würde, vorausgesetzt, es überlebte die Fährnisse der Entbindung, Lagranges Enkelkind sein. Was er mir nicht verriet, was Jeannes Mutter ihm vorenthielt, was ich wiederum Jeanne verschwieg. Wir machen die Gesetze, und dennoch schwärmen die Bienen, das Kaninchen sucht sich ein anderes Gehege, die Taube fliegt in einen fremden Schlag.
    »Als ich ein Spieler war«, sagte er endlich, »missbilligten die Menschen das. Sie hielten es für ein Laster. Für mich war es das nie. Mir schien es die Anwendung logischer Betrachtungsweisen auf menschliches Verhalten zu sein. Als ich ein Schlemmer war, hielten die Menschen das für Zügellosigkeit. Für mich war es das nie. Mir schien es eine rationale Herangehensweise an menschliche Freuden zu sein.«
    Er sah sie an. Sie hatte offenbar keine Ahnung, wovon er sprach. Nun,

Weitere Kostenlose Bücher