Der Zitronentisch
dann hat der Eigentümer des Bodens, auf dem sie sich niederlassen, einen Rechtstitel auf sie. Oder nimm den Fall der Kaninchen. Ziehen Kaninchen von einem Gehege zum anderen, so gehen sie in das Eigentum des Mannes über, auf dessen Boden das zweite Gehege liegt, es sei denn, dieser Eigentümer hat sie durch betrügerische und arglistige Mittel dorthin gelockt. Dasselbe gilt auch für Tauben. Fliegen sie auf öffentliche Ländereien, so gehören sie demjenigen, der sie tötet. Fliegen sie in einen anderen Taubenschlag, so gehören sie dem Besitzer dieses Taubenschlags, wieder vorausgesetzt, er hat sie nicht durch betrügerische und arglistige Mittel dorthin gelockt.«
»Ich kann dir nicht mehr recht folgen.« Lagrange blieb weiterhin freundlich, da ihm dergleichen verschlungene Pfade bei seinem Freund schon vertraut waren.
»Ich meine, wir schaffen uns Gewissheiten, wo es nur geht. Doch wer mag vorhersehen, wann die Bienen schwärmen? Wer mag vorhersehen, wohin die Taube fliegt oder wann das Kaninchen sein Gehege leid wird?«
»Und ihr Name?«
»Jeanne. Sie ist eine Magd im Badehaus.«
»Jeanne, die Magd im Badehaus?« Jeder kannte Lagrange als einen sanften Menschen. Jetzt stand er rasch auf und stieß seinen Stuhl zurück. Der Lärm ließ Delacour an seine Zeit bei der Armee denken, an jähe Kampfansagen und zerbrochene Möbelstücke.
»Du kennst sie?«
»Jeanne, die Magd im Badehaus? Ja. Und du musst ihr entsagen.«
Delacour verstand nicht. Das heißt, er verstand die Worte, nicht aber den Grund dafür und was sie bezweckten. »Wer mag vorhersehen, wohin die Taube fliegt?«, wiederholte er voller Freude über diese Formulierung.
Lagrange stand über ihn gebeugt, die Fingerknöchel auf dem Tisch, beinah zitternd, wie es schien. So ernst, oder so aufgebracht, hatte Delacour seinen Freund noch nie gesehen. »Im Namen unserer Freundschaft, du musst ihr entsagen«, wiederholte er.
»Du hast mir nicht zugehört.« Delacour lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und entfernte sich vom Gesicht des Freundes. »Am Anfang war es nur eine Frage der Hy giene. Ich verlangte, dass sich das Mädchen gefügig zeig te. Ich wollte keine Zärtlichkeiten von ihr – ich hielt sie davon ab. Ich schenkte ihr wenig Beachtung. Und doch, trotz alledem, habe ich angefangen, sie zu lieben. Wer mag vorhersehen …«
»Ich habe dir zugehört, und im Namen unserer Freundschaft bestehe ich darauf.«
Delacour erwog die Bitte. Nein, es war eine Forderung, keine Bitte. Plötzlich sah er sich wieder am Kartentisch und einem Gegner gegenüber, der ohne ersichtlichen Grund seinen Einsatz auf das Zehnfache erhöhte. In solchen Momenten hatte Delacour sich beim Taxieren des nichts preisgebenden Fächers in der Hand seines Gegners stets auf den Instinkt, nicht auf Berechnung verlassen.
»Nein«, erwiderte er ruhig, als lege er einen kleinen Trumpf ab.
Lagrange ging.
Delacour trank langsam sein Glas Wasser und führte sich gelassen die Möglichkeiten vor Augen. Er reduzierte sie auf zwei: Missbilligung oder Eifersucht. Missbilligung schloss er aus: Lagrange war stets ein Beobachter menschlichen Verhaltens gewesen, kein Moralist, der Kapricen verurteilte. Also musste es Eifersucht sein. Auf das Mädchen selbst oder auf das, was sie darstellte und verkörperte: Gesundheit, Langlebigkeit, Sieg? Wahrhaftig, die Anleihe trieb Männer zu seltsamem Verhalten. Lagrange war durch sie überreizt geworden, und er war in die Luft gegangen wie ein Bienenschwarm. Nun, Delacour würde ihm nicht folgen. Sollte er landen, wo immer er wollte.
Delacour setzte seine tägliche Routine fort. Dass Lagrange sich von ihm abgewandt hatte, erwähnte er nie mandem gegenüber und erwartete ständig, ihn wieder im Café auftauchen zu sehen. Ihre Diskussionen oder doch Lagranges aufmerksame Anwesenheit fehlten ihm, aber allmählich fand er sich mit seinem Verlust ab. Er besuchte Jeanne nun häufiger. Sie erhob keine Einwände dagegen und hörte ihm zu, wenn er über juristische Angelegenhei ten sprach, die sie nur selten verstand. Da ihr aufdringli che Zärtlichkeitsbekundungen vordem untersagt worden waren, blieb sie still und fügsam, obgleich ihr nicht ent ging, dass seine Liebkosungen zarter geworden waren. Eines Tages eröffnete sie ihm, dass sie ein Kind unter dem Herzen trage.
»Fünfundzwanzig Francs«, antwortete er automatisch. Sie protestierte, sie wolle kein Geld von ihm. Er entschuldigte sich – er habe gerade an etwas anderes gedacht – und fragte, ob
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