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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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das war seine eigene Schuld. »Jeanne«, sagte er und ergriff ihre Hand. »Du brauchst um dein Kind keine Angst zu haben. Keine Angst, wie deine Mut ter sie hatte. Es ist nicht nötig.«
    »Ja, Herr.«
    Beim Abendessen lauschte er dem Geplapper seines erwachsenen Sohnes und versagte es sich, zahlreiche Schwachsinnigkeiten zu korrigieren. Er kaute auf einem Streifen Baumrinde herum, doch ohne Appetit. Später schmeckte seine Tasse Milch, als käme sie aus einem Kupfertiegel, sein gedünsteter Salat stank nach Misthaufen, sein Renette-Apfel hatte die Konsistenz eines Rosshaarkissens. Als man ihn am Morgen fand, war seine leinene Nachtmütze von einer starren Hand umschlossen. Doch ob er die Mütze eben hatte aufsetzen wollen oder aus irgendeinem Grunde abgenommen hatte, konnte niemand sagen.

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FRANZÖSISCHKENNTNISSE
    Pilcher House
    18. Februar 1986
    Lieber Dr. Barnes (ich bin eine alte Frau, bald einundachtzig),
    tja, also ich lese ernsthafte WERKE, aber wenn’s abends was Leichtes sein soll, wie kommt man an Romane in einer Altenlagerstätte? (Sie werden verstehen, dass ich noch nicht lange hier bin.) Es gibt hier jede Menge »Romane« vom Roten Kreuz. Worüber? Ha! Den Arzt mit dem lockigen Haar und den »ergrauten Schläfen«, den seine Frau wahrscheinlich nicht versteht oder der besser noch Witwer ist, und die attraktive Krankenschwester, die ihm im OP die Säge reicht. Schon in einem Alter, in dem ich für derart unglaubwürdige Darstellungen des Lebens hätte empfänglich sein können, griff ich lieber zu Darwins »Bildung der Ackererde durch die Tätigkeit der Würmer«.
    Also: Ich dachte, ich geh in die Leihbücherei und nehm mir alle Romane vor, bei A angefangen. (Ich hab mal gehört, wie ein kleines Mädchen vor sich hin sang: »Leihbücherei – Bleilügerei …«) Ich finde, so habe ich viele unterhaltsame Beschreibungen von Kneipen gelesen und viel Voyeurismus an weiblichen Brüsten, darum gehe ich weiter zum nächsten Buchstaben. Sie merken, worauf ich hinaus will? Als Nächstes kommt Barnes: »Flauberts Papagei«. Ah, das muss Loulou sein. Ich schmeichle mir, dass ich »Un Coeur simple« auswendig kann. Ich habe aber nur wenige Bücher, da mein Zimmer hier trop petit ist.
    Es wird Sie freuen, dass ich zweisprachig bin, und meine Aussprache ist eine Wonne. Letzte Woche hörte ich auf der Straße einen Lehrer zu einem Touristen sagen: »A gauche puis à droite.« Die Finesse der Aussprache von GAUCHE ließ mein Herz höher schlagen, und ich sage es mir in der Badewanne immer wieder vor. So gut wie französisches Brot und französische Butter. Können Sie sich vorstellen, dass mein Vater, der jetzt 130 wäre, Französisch (wie da mals auch Latein) so lernte, als würde es englisch ausge sprochen: »li tschätt« statt »lö scha«. Nein, das können Sie nicht: Bin mir selbst nicht ganz sicher. Immerhin gibt es kleine Fortschritte: Das R wird von den Studenten heute oft in die richtige Richtung gerollt.
    Doch revenons à nos perroquets, das ist nämlich der Hauptgrund, warum ich Ihnen schreibe. Ich will nicht darauf herumreiten, was Sie in Ihrem Buch über den Zufall schreiben. Doch, will ich wohl. Sie schreiben, Sie glauben nicht an den Zufall. Das meinen Sie doch nicht im Ernst. Sie meinen, Sie glauben nicht an den absichtsvollen oder zielgerichteten Zufall. Die Existenz des Zufalls können Sie nicht leugnen, denn er tritt recht häufig ein. Sie weigern sich jedoch, ihm Bedeutung beizumessen. Ich bin mir dessen nicht so sicher wie Sie, da ich in solchen Dingen im Großen und Ganzen Agnostikerin bin. Jedenfalls habe ich die Angewohnheit, morgens meist durch die Church Street (keine Kirche mehr da) zum Market Green (auch kein Markt mehr) zu gehen. Gestern hatte ich gerade Ihr Buch weggelegt und spaziere so vor mich hin, und was seh ich da, hinter einem hohen Fenster eingesperrt – einen großen grauen Papagei im Käfig! Zufall? Natürlich. Bedeutung? Das Tier sieht erbärmlich aus, die Federn ganz aufgeplustert, es hustet, sein Schnabel trieft, und keinerlei Spielzeug im Käfig. Also schreibe ich eine (höfliche) Postkarte an seinen (unbekannten) Besitzer, dass dieser Zustand mir das Herz im Leibe umdreht und dass ich hoffe, wenn sie abends nach Hause kommen, sind sie nett zu dem Vogel. Kaum bin ich wieder in meinem Zimmer, stürmt eine wütende alte Frau herein, stellt sich vor, wedelt mit meiner Postkarte und sagt, sie bringt mich vor Gericht. »Schön«, antworte ich. »Das wird aber sehr teuer

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