Der Zitronentisch
Zärtlichkeitsbekundungen abgehalten hatte, sah er dem Zusammensein mit Freude entgegen. Er beschloss, ihr nach dem Tod des neununddreißigsten Anteilszeichners in Anerkennung ihrer lebensverlängernden Dienste hundert Francs zu geben, oder vielleicht etwas weniger.
Weitere Anleger starben; Delacour trug die entsprechenden Daten in sein Büchlein ein und trank lächelnd auf ihr Ableben. An einem solchen Abend sagte Madame Amélie nach dem Zubettgehen zu ihrem Gatten: »Was ist der Sinn des Lebens, wenn es nur dem einen Zweck dient, andere zu überleben?«
»Jeder von uns muss den Sinn für sich selbst finden«, antwortete Charles. »Dies ist seiner.«
»Aber findest du es nicht seltsam, dass der Tod seiner Mitmenschen ihm nun anscheinend die größte Freude bereitet? Er findet kein herkömmliches Vergnügen am Leben. Seine Tage sind so geregelt, als erfülle er einen äußerst gestrengen Dienst – doch Dienst an was, Dienst an wem?«
»Die Zeichnung der Anleihe geschah auf deinen Vorschlag hin, meine Liebe.«
»Als ich diesen Vorschlag machte, konnte ich nicht voraussehen, wie er sich auf seinen Charakter auswirken würde.«
»Der Charakter meines Vaters«, erwiderte Charles scharf, »ist unverändert. Er ist nun ein alter Mann, und noch dazu Witwer. Natürlich sind seine Vergnügungen geringer geworden, und seine Interessen haben sich ein wenig gewandelt. Doch er widmet sich dem, was ihn heu te interessiert, mit derselben geistigen Energie und der selben Logik, wie er sich früher dem widmete, was ihn zuvor interessierte. Sein Charakter ist unverändert«, wie derholte Charles, als habe man seinen Vater der Senilität geziehen.
André Lagrange hätte – so man ihn denn gefragt hätte – Madame Amélie beigepflichtet. Einst ein Wollüstling, war Delacour nun zum Asketen geworden; einst ein Fürsprecher der Toleranz, hatte er Härte gegenüber anderen Sterblichen entwickelt. Auf seinem Platz im Café Anglais hörte sich Lagrange eine weitschweifige Rede über die unzulängliche Durchsetzung der achtzehn Artikel zur Regelung des Tabakanbaus an. Es folgte ein kurzes Schweigen, Delacour trank einen Schluck Wasser und fuhr fort: »Jeder Mensch sollte drei Leben haben. Dies ist mein drittes.«
Junggesellenzeit, Ehe und Witwerschaft, vermutete Lagrange. Oder vielleicht Spielen, Schlemmen und die Tontine. Doch Lagrange war schon seit langem kontemplativ veranlagt und wusste deshalb, dass Männer sich häufig durch ein alltägliches Ereignis, dem eine übertriebene Bedeutung zugeschrieben wurde, zu allgemeinen Aussagen bewegen ließen.
»Und ihr Name?«, fragte er.
»Es ist seltsam«, sagte Delacour, »wie sich die grundle gende Gesinnung im Verlaufe eines Lebens wandeln kann. Als ich jung war, achtete ich den Priester, ich ehrte meine Familie, ich war voller Ehrgeiz. Was die Leidenschaften des Herzens angeht, so entdeckte ich, als ich der Frau be gegnete, die meine Gattin werden sollte, wie eine lange Ouvertüre bei der Liebe am Ende, mit Billigung und Bei fall der Gesellschaft, zu jenen fleischlichen Freuden führt, die uns so teuer sind. Nun, da ich älter geworden bin, glaube ich weniger daran, dass der Priester uns den besten Weg zu Gott weisen kann, meine Familie ist mir oft ärger lich, und ich habe keinen Ehrgeiz mehr.«
»Das liegt daran, dass du einen gewissen Wohlstand und eine gewisse Lebensanschauung erlangt hast.«
»Nein, es liegt eher daran, dass ich Geist und Charakter beurteile und nicht den gesellschaftlichen Rang. Der Curé ist ein angenehmer Gefährte, aber ein theologischer Narr; mein Sohn ist ehrlich, aber langweilig. Beachte, dass ich mir auf diesen Wandel meiner Weltsicht nichts zugute halte. Er ist mir lediglich widerfahren.«
»Und die fleischlichen Freuden?«
Delacour seufzte und schüttelte den Kopf. »Als ich ein junger Mann war, zu meiner Militärzeit, ehe ich meine verstorbene Frau kennen lernte, gab ich mich naturgemäß mit den Frauen ab, die sich verfügbar machten. Nichts an diesen Erfahrungen meiner Jugendzeit ließ mich die Möglichkeit ahnen, dass fleischliche Freuden zu Liebesgefühlen führen könnten. Ich bildete mir ein – nein, ich war überzeugt –, es sei stets umgekehrt.«
»Und ihr Name?«
»Das Schwärmen der Bienen«, antwortete Delacour. »Wie du weißt, ist das Gesetz eindeutig. Solange der Besitzer seinen Bienen folgt, während sie schwärmen, hat er das Recht, sie zurückzufordern und wieder in seinen Besitz zu bringen. Ist er ihnen aber nicht gefolgt,
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