Der Zitronentisch
sonntags nicht spielte, lag, so las ich, »nicht etwa an Unlust auf Eddies oder Miesepetrigkeit auf Mr Steinlers Seite, sondern an der Steifheit unserer Landsleu te, für die Frohsinn ein Ärgernis ist wie ein eingewachsener Zehennagel.« Stimmt das? Ist uns Frohsinn ein Ärgernis? Mr Steinler war vermutlich der Besitzer.
Als wir uns kennen lernten, hat er immer gesagt: »Das Leben ist nichts als eine verfrühte Reaktion auf den Tod.« Ich hab gesagt, er solle nicht so morbide sein, wir hätten die besten Jahre noch vor uns.
Ich will nicht den Eindruck erwecken, als sei er einzig und allein am Essen interessiert gewesen. Er hat die Nachrichten verfolgt und hatte immer eine eigene Meinung. Eine Überzeugung. Er ist gern zum Pferderennen gegangen, aber das Wetten hatte für ihn keinen Reiz: Zweimal im Jahr, das Derby und das Grand National, das war genug für ihn; ich konnte ihn nicht einmal dazu bringen, ein paar Pfund beim Oaks oder St. Leger zu riskieren. Immer beherrscht, wie Sie sehen; sehr besonnen. Er hat auch gern Biographien gelesen, vor allem von Leuten aus dem Showbusiness, und wir sind viel gereist, und er war ein eifriger Tänzer. Aber das ist ja jetzt alles vorbei. Und auch am Essen hat er keine Freude mehr; jedenfalls nicht, wenn er es essen soll. Ich püriere ihm alles im Mixer. Das Zeug in der Dose kaufe ich nicht. Alkohol darf er natürlich nicht trinken, das würde ihn zu sehr erregen. Er mag Kakao und warme Milch. Nicht zu heiß, sie darf nicht kochen, nur auf Körpertemperatur angewärmt sein.
Als alles anfing, dachte ich, na ja, besser das als etwas anderes. Es gibt Schlimmeres. Und wenn er auch vergesslich wird, er bleibt doch er selbst, tief im Innern, durch und durch. Vielleicht ist es so etwas wie eine zweite Kindheit, aber es ist seine Kindheit, nicht wahr? So dachte ich. Selbst wenn es ganz schlimm wird und er mich nicht mehr erkennt, ich werde ihn erkennen, immer, und das wird genügen.
Als ich meinte, dass er allmählich Schwierigkeiten mit Menschen habe, dass er sich nicht mehr recht an sie erinne re, holte ich das Fotoalbum heraus. Ich klebe seit einigen Jahren nichts mehr hinein. Mir hat nicht mehr gefallen, was aus dem Labor zurückkam, wenn Sie die Wahrheit hören wollen. Er fing mit der letzten Seite an, ich weiß nicht warum, aber ich fand es eine gute Idee, das Leben von hinten aufzurollen statt von vorne. Gemeinsam zu rückzugehen, ich an seiner Seite. Als Letztes hatte ich die Fotos von der Kreuzfahrt eingeklebt, und die waren nicht sehr gelungen. Vielmehr, sie waren nicht sehr schmeichel haft. Ein Tisch mit rotgesichtigen Rentnern, Papiermüt zen auf dem Kopf und starre Augen, die der Blitz ganz rosa gefärbt hatte. Doch er sah sich jedes Bild genau an und erkannte, wie mir schien, alles wieder; dann arbeitete er sich langsam von hinten durch das Buch: Ruhestand, Silberhochzeit, Reise nach Kanada, Wochenendausflüge in die Cotswolds, Skipper, kurz bevor wir ihn einschlä fern ließen, die Wohnung nach und dann vor der Reno vierung, Skipper, als er zu uns kam, und so weiter, immer weiter zurück, bis er bei dem Urlaub ein Jahr nach unse rer Hochzeit angelangt war, da waren wir in Spanien, am Strand, und ich hatte einen Badeanzug an, bei dem ich im Laden Bedenken hatte, bis mir einfiel, dass wir dort wohl kaum einen seiner Kollegen treffen würden. Als ich den Anzug anprobierte, konnte ich gar nicht fassen, was man da alles sehen konnte. Trotzdem, ich habe es einfach drauf ankommen lassen, und … na, ich will mal so sagen, über die Auswirkungen auf die ehelichen Beziehungen konnte ich mich nicht beklagen.
Nun, er hielt bei dem Foto inne, starrte es lange unverwandt an, dann sah er zu mir rüber. » Der da könnt ich glatt die Titten wetzen«, sagte er.
Ich bin nicht prüde, egal, was Sie jetzt von mir denken. Die »Titten« haben mich nicht schockiert. Und nachdem ich mich damit abgefunden hatte, hat mich das »der da« auch nicht mehr schockiert. Es war das Wort »wetzen«. Das hat mich schockiert.
Er ist nett zu anderen Leuten. Ich meine, er behandelt sie anständig und korrekt. Er nickt ihnen mit leisem Lächeln zu, wie ein alter Lehrer, der einen ehemaligen Schüler wieder erkennt, sich aber nicht mehr auf den Namen besinnt und in welchem Jahr er Examen gemacht hat. Er schaut die Leute an und pinkelt diskret in seine Slipeinlage und antwortet »Sie sind ein sehr netter Mensch, er ist ein sehr netter Mensch, Sie sind ein sehr netter Mensch« auf alles, was sie sagen,
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