Der Zitronentisch
Gedächtnis. Es ist fast schon hohe Erzählkunst, was er sich da ausdenkt, während er mir in Schlafanzug und Morgenrock gegenübersitzt. Er denkt es sich aus, aber ich weiß, dass es wahr ist, weil ich mich dann auch daran erinnere. Das Blechschild, die Erdölpumpe, die mit dem Kopf zum Trinken abtaucht, der Bussard am Himmel, das Tuch, mit dem ich mir die Haare zurückgebunden habe, der Regenguss und der Regenbogen nach dem Guss.
Er hatte immer Freude am Essen. Er befragte seine Patienten nach ihren Essgewohnheiten und machte sich hinterher eine kleine Notiz dazu. Dann untersuchte er einmal zu Weihnachten nur so zum Spaß, ob die Patien ten, die Freude am Essen haben, ihre Zähne besser pfle gen als die anderen. Er stellte das in einer Tabelle dar. Wollte mir nicht sagen, was er vorhatte, bis er fertig war. Und das Ergebnis war, wie er sagte, dass es keinen statis tisch signifikanten Zusammenhang zwischen Freude am Essen und Zahnpflege gibt. Was irgendwie enttäuschend war, weil man ja immer gern Zusammenhänge sehen will, nicht wahr?
Nein, er hatte immer Freude am Essen. Darum schien mir Bon Viveur’s London 1954 zunächst auch so eine gute Idee zu sein. Es lag zwischen ein paar alten Büchern, die er seit der Zeit aufbewahrt hatte, als er sich mit einer eigenen Praxis selbständig machte und lernte, das Leben zu genießen, bevor er mit »ihr« verheiratet war. Ich hatte es im Gästezimmer gefunden und dachte, vielleicht weckt es Erinnerungen. Die Seiten rochen alt, und da standen Sätze wie: »Der Empress Club ist Tommy Gale, und Tommy ist der Empress Club.« Und: »Wenn Sie zum Umrühren Ihres Kaffees noch nie eine Vanillestange anstelle eines Teelöffels benutzt haben, dann ist Ihnen eine der 1000001 kleinen Tafelfreuden entgangen.« Sie verstehen, warum ich dachte, da werden bestimmt Erinnerungen wach.
Einige Seiten hatte er angestrichen, daher nahm ich an, dass er schon einmal im Chelsea Pensioner und in der Antelope Tavern und in einem Lokal namens Bellometti am Leicester Square war, dessen Wirt sich »Bauer« Bellometti nannte. Der Beitrag über dieses Lokal beginnt so: »›Bauer‹ Bellometti ist eine derart elegante Erscheinung, dass es sein Vieh beschämen und liederliche Ackerfurchen verlegen machen muss.« Hört sich doch an wie aus einer anderen Zeit, nicht wahr? Ich hab ihm probehalber ein paar Namen und Orte genannt. La Belle Meunière, Brief Encounter, Hungaria Taverna, Monseigneur Grill, Ox on the Roof, Vaglio’s Maison Suisse.
Er sagte: »Lutsch mir den Schwanz.«
Ich sagte: » Wie bitte?«
Er antwortete mit einem grässlichen Akzent: »Du weißt doch, wie man einen Schwanz lutscht, oder nicht? Du machst den Mund auf wie eine Möse – und lutschst.« Dann guckte er mich an, als wollte er sagen: Jetzt weißt du, woran du bist, jetzt weißt du, mit wem du es zu tun hast.
Ich dachte, er hat einfach einen schlechten Tag, oder es sind die Medikamente. Und ich glaubte auch nicht, dass es etwas mit mir zu tun hatte. Darum versuchte ich es am nächsten Nachmittag noch einmal.
»Warst du mal in einem Lokal namens Peter’s?«
»Knightsbridge«, antwortete er. »Ich hatte gerade einer Dame vom Theater die Kronen repariert, knifflige Sache. Das war eine Amerikanerin. Sie meinte, ich hätte ihr das Leben gerettet. Wollte wissen, ob ich gern essen gehe. Gab mir fünf Pfund und sagte, ich solle meine Liebste zu Peter’s ausführen. War noch so nett und rief vorher dort an, um sie zu informieren, dass ich käme. In so einem vornehmen Lokal war ich noch nie gewesen. Es gab einen holländischen Pianisten namens Eddie. Ich hatte den Mixed Grill Peter’s: Steak, Frankfurter Würstchen, eine Scheibe Leber, Spiegelei, Grilltomate und zwei Scheiben gegrillten Schinken. Werd ich nie vergessen. Danach war ich satt bis obenhin.«
Ich wollte fragen, wer damals seine Liebste war, aber stattdessen sagte ich: »Was hattest du zum Dessert?«
Er runzelte die Stirn, als konsultiere er eine ferne Speisekarte. »Gieß dir Honig in die Fotze und lass ihn mich rauslecken, das nenn ich Dessert.«
Wie gesagt, ich nahm das nicht persönlich. Ich dachte, das hätte vielleicht etwas mit dem Mädchen zu tun, das er damals vor langer Zeit ins Peter’s ausgeführt hatte. Später, im Bett, sah ich mir dann den Eintrag über das Restaurant an. Er hatte alles vollkommen richtig im Kopf. Und es gab wirklich einen holländischen Pianisten namens Eddie. Er spielte jeden Abend in der Woche von Montag bis Sams tag. Dass er
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