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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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und dann gehen die Leute weg und denken »Ja, ich bin mir fast sicher, dass er mich erkannt hat, im tiefsten Innern ist er immer noch da, furchtbar traurig natürlich, traurig für ihn und traurig für sie, aber ich glaube, er hat sich über den Besuch gefreut, und damit habe ich meine Pflicht getan.« Ich mache hinter ihnen die Tür zu, und wenn ich zurückkomme, wirft er das Teegeschirr auf den Boden und schlägt wieder eine Tasse kaputt. Dann sage ich: »Nein, das tun wir nicht, wir lassen die Sachen schön auf dem Tablett«, und darauf sagt er: »Ich stopf dir meinen Schwanz in deinen dicken fetten Arsch und fick dich in den Hintern, rein raus, rein raus, und dann spritz ich ab, dass es dir zu den Ohren rauskommt.« Dann lacht er gackernd, als hätte er mir eben beim Tee einen Streich gespielt, als hätte er mich reingelegt. Als hätte er mich schon immer reingelegt, die ganze Zeit über.
    Er hatte seit jeher das bessere Gedächtnis, das ist der Witz dabei. Früher dachte ich, ich könnte mich auf ihn, auf seine Erinnerungen verlassen; für die Zukunft, meine ich. Jetzt sehe ich mir die Bilder von einem Wochenendausflug in die Cotswolds vor zwanzig Jahren an und überlege, wo haben wir gewohnt, was ist das für eine Kirche oder für ein Kloster, warum habe ich diesen Forsythienstrauch fotografiert, wer ist gefahren, und hatten wir eheliche Beziehungen? Nein, Letzteres frage ich mich nicht, obwohl ich es könnte.
    Er sagt: »Leck mir die Eier, na los, nimm sie einzeln in den Mund und kuller sie mit der Zunge rum.« Das hört sich nicht etwa zärtlich an. Er sagt: »Spritz dir Babylotion auf die Titten und drück sie mit den Händen zusammen, und dann fick ich dich dazwischen und komm auf deinem Hals.« Er sagt: »Ich scheiß dir in den Mund, das hast du dir doch immer gewünscht, oder nicht, du verklemmte Sau, immer nur ficken, jetzt lass mich endlich mal ran.« Er sagt: »Ich zahl auch dafür, dass du machst, was ich will, aber du darfst nicht wählerisch sein, du musst alles machen, ich bezahl dich auch, ich hab mir meine Pension auszahlen lassen, wozu soll ich sie der da hinterlassen.« Mit »der da« meint er nicht »sie«. Er meint mich.
    Deswegen mache ich mir keine Sorgen. Ich habe eine Vollmacht. Aber wenn es mit ihm noch schlimmer wird, muss ich eine Pflegerin bezahlen. Und wenn er noch lange lebt, geht vielleicht alles dafür drauf. Tja, wozu »der da« was hinterlassen. Ich kann mir vorstellen, dass ich bald anfange zu rechnen. Etwa so: Vor zwanzig oder dreißig Jahren hat er zwei, drei Tage unter Einsatz all seines Könnens und all seiner Konzentration gearbeitet, um das Geld zu verdienen, das ich jetzt in ein, zwei Stunden für eine Pflegerin ausgebe, die ihm den Hintern abwischt und das Gebrabbel eines fünfjährigen Lümmels über sich ergehen lässt. Nein, stimmt nicht. Eines fünfundsiebzigjährigen Lümmels.
    Er sagte, damals vor langer Zeit: »Viv, ich möchte eine lange Affäre mit dir haben. Wenn wir verheiratet sind.« In unserer Hochzeitsnacht hat er mich ausgepackt wie ein Geschenk. Er war immer sanft. Ich habe darüber gelächelt, ich habe gesagt: »Ist schon okay, für so was brauche ich keine Narkose.« Aber er mochte es nicht, wenn ich im Bett Witze machte, darum habe ich es dann bleiben lassen. Ich glaube, letzten Endes hat er das ernster genommen als ich. Ich meine, ich hab auf dem Gebiet auch keine Schwierigkeiten. Ich finde nur, man sollte lachen dürfen, wenn man das Bedürfnis hat.
    Es ist so weit gekommen, wenn Sie die Wahrheit hören wollen, dass ich mich nur noch mit Mühe erinnere, wie das im Bett bei uns war. Es kommt mir vor, als wären das damals ganz andere Leute gewesen. Leute mit Kleidern, die sie für modern hielten, die jetzt aber lächerlich wirken. Leute, die zu Peter’s gingen und sich jeden Abend außer Sonntag Eddie den holländischen Pianisten anhörten. Leute, die ihren Kaffee mit einer Vanillestange umrührten. So fremd, so weit weg.
    Natürlich hat er immer noch gute Tage, genau wie er schlechte hat. Wir fahren von Nirgendwo nach Nirgendwo, mit Absicht. An den guten Tagen regt er sich nicht zu sehr auf und genießt seine warme Milch, und ich lese ihm vor. Für eine Weile ist dann alles wieder so wie früher. Nicht wie vorher, aber so wie vor kurzer Zeit.
    Ich rufe ihn nie beim Namen, weil er sonst denkt, ich meine jemand anderen, und panische Angst bekommt. Stattdessen sage ich: »Rindergulasch.« Er sieht mich nicht an, aber ich weiß, dass er es gehört

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