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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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hat. »Lamm- oder Schweinegulasch«, fahre ich fort. »Gulasch vom Kalb und vom Schwein. Belgischer Rinderschmortopf oder Carbonnade flamande.«
    »Ausländischer Fraß«, grummelt er mit kaum merklichem Lächeln.
    »Ochsenschwanz-Ragout«, rede ich weiter, und er hebt leicht den Kopf, obwohl ich weiß, dass es noch nicht ganz so weit ist. Ich habe gelernt, was er mag; ich habe gelernt, den richtigen Zeitpunkt zu erkennen. »Rindfleischvögel, Roulades oder Paupiettes. Steak and Kidney Pie.«
    Und nun sieht er mich erwartungsvoll an.
    »Vier Portionen. Backofen auf 180° vorheizen. Klassische Rezepte schreiben für dieses Gericht oft Rindernieren vor.« Er schüttelt den Kopf, um sanft zu widersprechen. »In dem Fall müssen sie blanchiert werden. In kleine, einen guten Zentimeter dicke Scheiben schneiden: 1½ Pfund Beefsteak aus der Keule oder anderes.«
    »Oder anderes «, wiederholt er missbilligend.
    »Ein Dreiviertelpfund Kalbs- oder Lammnieren.«
    » Oder .«
    »Drei Esslöffel Butter oder Rindertalg.«
    » Oder «, sagt er lauter.
    »Gewürze und Mehl. Zwei Tassen dunkle Brühe.«
    » Tassen .«
    »Eine Tasse trockenen Rotwein oder Bier.«
    » Tasse «, wiederholt er. » Oder «, wiederholt er. Dann lächelt er.
    Und für einen Moment bin ich glücklich.

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DER OBSTBAUMKÄFIG
    Als ich dreizehn war, entdeckte ich im Badezimmerschränkchen eine Tube mit empfängnisverhütendem Gel. Obwohl ich generell den Verdacht hegte, dass alles, was vor mir verborgen wurde, wahrscheinlich mit den Lüsten des Fleisches zusammenhing, konnte ich den Zweck dieser abgegriffenen Tube nicht erkennen. Irgendeine Salbe gegen Ekzeme, Haarausfall oder Altersspeck. Dann verriet mir das Kleingedruckte, von dem ein paar Buchstaben abgeblättert waren, was ich lieber nicht erfahren hätte. Meine Eltern trieben es noch. Ja, wenn sie es trieben, konnte meine Mutter dabei womöglich schwanger werden. Die Vorstellung war, nun ja, unersprießlich. Ich war dreizehn, meine Schwester siebzehn. Vielleicht war die Tube ja sehr, sehr alt. Ich drückte vorsichtig darauf und ließ alle Hoffnung fahren, als sie meinem Daumendruck geschmeidig nachgab. Ich fasste an die Verschlusskappe, die anscheinend abging wie geschmiert. Dabei muss meine andere Hand wieder zugedrückt haben, denn mir spritzte ein zäher Schleim in die hohle Hand. Ein erschreckender Gedanke, dass meine Mutter das mit sich machte – was immer »das« noch einschließen mochte, denn aller Wahrscheinlichkeit nach war das nicht die vollständige Ausstattung. Ich schnupperte an dem nach Benzin riechenden Gel. Irgendwas zwischen Arztpraxis und Autoreparaturwerkstatt, dachte ich. Widerlich.
    Das lag jetzt über dreißig Jahre zurück. Ich hatte bis heute nicht mehr daran gedacht.
    Ich kenne meine Eltern mein Leben lang. Das klingt wie eine Selbstverständlichkeit, ich weiß. Ich will es erklären. Als Kind fühlte ich mich geliebt und behütet und entwi ckelte prompt den ganz normalen Glauben an die Unauf lösbarkeit der Elternbindung. Die Pubertät brachte die übliche Langeweile und aufgesetzte Reife mit sich, aber nicht mehr als bei anderen auch. Ich zog ohne Trauma aus meinem Elternhaus aus und ließ den Kontakt nie für lange Zeit einschlafen. Ich sorgte für Enkelkinder, eins von je dem Geschlecht, und glich damit das Engagement meiner Schwester für ihre Karriere aus. Später führte ich verant wortungsbewusste Gespräche mit meinen Eltern – nun ja, mit meiner Mutter – über die Folgen des Älterwerdens und die praktischen Vorteile von Bungalows. Zu ihrem vierzigsten Hochzeitstag organisierte ich ein gesetztes Mittagessen; ich inspizierte Angebote für betreutes Woh nen und sprach die Testamente mit ihnen durch. Ma sagte mir sogar, was mit der Asche beider Eltern zu geschehen habe. Ich sollte die Urnen zu einer Felsspitze auf der Isle of Wight bringen, wo sie, wie ich daraus schloss, sich erst mals ihre Liebe gestanden hatten. Die Anwesenden sollten den Staub in den Wind und für die Seemöwen verstreuen. Ich machte mir bereits Gedanken darüber, was ich dann mit den leeren Urnen anfangen sollte. Man konnte sie ja nicht gut nach der Asche von der Klippe werfen; man konnte sie aber auch nicht behalten und, was weiß ich, Zi garren oder Schokokekse oder Weihnachtsschmuck darin aufbewahren. Und man konnte sie ganz bestimmt nicht in einen Abfalleimer auf dem Parkplatz stecken, den meine fürsorgliche Mutter schon auf der Generalstabskarte mar kiert hatte. Die hatte sie mir

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