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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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aufgedrängt, als mein Vater nicht im Zimmer war, und vergewisserte sich von Zeit zu Zeit, dass ich sie an einem sicheren Ort verwahrte.
    Sie sehen, ich kenne sie. Mein Leben lang.
    Meine Mutter heißt Dorothy Mary Bishop, und ihren Mädchennamen Heathcock gab sie ohne Bedauern auf. Mein Vater ist Stanley George Bishop. Sie wurde 1921 geboren, er 1920. Sie sind in verschiedenen Regionen der West Midlands aufgewachsen, lernten sich auf der Isle of Wight kennen, zogen in eine ländliche Gegend am Stadtrand von London und setzten sich an der Grenze von Essex und Suffolk zur Ruhe. Ihr Leben verlief in geordneten Bahnen. Meine Mutter arbeitete während des Krieges im Bezirkskatasteramt; mein Vater war in der Air Force. Nein, er war kein Jagdpilot oder dergleichen; seine Begabung lag auf dem Gebiet der Verwaltung. Danach bekam er einen Posten in der Kommunalbehörde und wurde schließlich Stellvertretender Stadtdirektor. Er sagte gern, er sei für alles verantwortlich, was wir gar nicht wahrnähmen. Unentbehrlich, aber nicht geschätzt: Mein Vater war ein ironischer Mensch und stellte sich gern mit diesem Spruch dar.
    Karen kam vier Jahre vor mir zur Welt. Meine Kindheit lebt in Gerüchen wieder auf. Porridge, Vanillesoße, die Tabakspfeife meines Vaters; Waschpulver, Messingpoli tur, das Parfüm meiner Mutter vor dem Freimaurerball; der Duft von Speck, der durch die Bodenritzen dringt, während ich im Bett liege; vulkanartig brodelnde Bitter orangen, obwohl draußen noch Bodenfrost herrscht; mit Gras vermengter trocknender Matsch an Fußballstiefeln; Klogestank von den Vorbenutzern und Küchengestank von bockenden Abflussrohren; die alternden Lederpols ter unseres Morris Minor und die beißende Schlacke, die mein Vater zur Drosselung des Zugs auf das Kaminfeuer schaufelt. All diese Gerüche kehrten periodisch wieder, genau wie die ewig gleichen Zyklen von Schule, Wetter, Gartenfrüchten und häuslichem Leben. Das erste Her vorbrechen scharlachroter Stangenbohnenblüten; zusam mengelegte Unterhemden in meiner untersten Schublade; Mottenkugeln; der Gasanzünder fürs Kaminfeuer. Mon tags vibrierte das ganze Haus von unserer Waschma schine, die sich mit wildem Geheul ruckweise über den Küchenboden schob, ehe sie in irrsinnigen Abständen Gallonen von heißem grauen Wasser durch ihre dicken beigefarbenen Schläuche entließ und dann schwallweise in den Ausguss spuckte. Sie hatte eine Metallplakette mit dem Herstellernamen Thor. Der Donnergott sitzt und grollt in den Randbezirken der Vororte.
    Vielleicht sollte ich versuchen, Ihnen eine Vorstellung von dem Charakter meiner Eltern zu geben.
    Ich glaube, die Leute haben meiner Mutter immer mehr natürliche Intelligenz zugeschrieben als meinem Vater. Er war – ist – groß gewachsen, korpulent und hat einen Bauch; seine Handrücken sind von hervortretenden Adern gefurcht. Er behauptete immer, er habe schwere Knochen. Ich wusste nicht, dass es Knochen von unter schiedlichem Gewicht gibt. Vielleicht gibt es sie gar nicht; vielleicht hat er das nur so gesagt, damit wir Kinder un seren Spaß hatten oder ins Staunen gerieten. Manchmal wirkte er schwerfällig, wenn seine dicken Finger über ei nem Scheckbuch innehielten oder wenn er einen Stecker reparierte und das Heimwerker-Handbuch aufgeschlagen vor sich liegen hatte. Aber Kinder mögen es ganz gern, wenn ein Elternteil etwas langsam ist: Dann scheint die Erwachsenenwelt weniger unerreichbar. Mein Vater nahm mich oft mit in »die Stadt«, wie er London nannte, wo er Bausätze für Modellflugzeuge kaufte (noch mehr Gerü che: Balsaholz, farbige Schmiermittel, Metallmesser). Damals hatten U-Bahn-Rückfahrkarten eine perforierte Li nie, die eingezeichnet, aber nicht durchbrochen war; der Teil für den Hinweg nahm zwei Drittel der Fahrkarte ein, der für die Rückfahrt ein Drittel – eine Unterteilung, de ren Logik mir nie eingeleuchtet hat. Jedenfalls blieb mein Vater immer stehen, wenn wir am Oxford Circus an die Sperre kamen, und schaute leicht verwirrt auf die Fahr karten in seiner großen Hand. Dann zog ich ihm die Kar ten geschickt weg, riss sie an der perforierten Linie durch, legte ihm die Rückfahrt-Drittel wieder in die Hand und präsentierte die Hinfahrtabschnitte mit großer Geste dem Kontrolleur. Ich war damals neun oder zehn und stolz auf meine Fingerfertigkeit; jetzt, viele Jahre später, frage ich mich, ob mein Vater nicht doch geblufft hat.
    Meine Mutter war diejenige, die alles organisierte. Obwohl mein Vater sein

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