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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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Leben lang dafür sorgte, dass in un serer Gemeinde alles reibungslos lief, unterwarf er sich doch einem anderen Regime, sobald er die Haustür hinter sich geschlossen hatte. Mein Mutter kaufte seine Gardero be für ihn ein, arrangierte die Kontakte zu Freunden und Bekannten, überwachte unsere schulischen Fortschritte, teilte das Geld ein, traf die Entscheidungen über die Fe rien. Dritten gegenüber nannte mein Vater seine Frau gern »die Regierung« oder »die höhere Instanz«. Dabei lächel te er immer. Möchten Sie etwas Dünger für den Garten, Sir, erste Qualität, gut verrottet, urteilen Sie selbst, wol len Sie mal fühlen? »Mal sehen, was die Regierung dazu sagt«, antwortete mein Vater dann. Wenn ich bettelte, dass er mich zu einer Flugshow oder einem Cricketspiel mitnahm, sagte er: »Das unterbreiten wir der höheren Instanz.« Meine Mutter konnte die Rinde von einem Sandwich abschneiden, ohne dass auch nur das kleinste bisschen Füllung verloren ging: eine liebliche Harmonie von Hand und Messer. Sie konnte recht spitzzüngig sein, was ich auf die geballte Frustration des Hausfrauenda seins schob; aber sie war auch stolz auf ihre häuslichen Fähigkeiten. Wenn sie meinem Vater mit irgendetwas in den Ohren lag und er sagte, sie solle ihn nicht nerven, er widerte sie: »Das Wort nerven gebrauchen Männer nur, wenn sie etwas nicht machen wollen.« Beide arbeiteten fast jeden Tag im Garten. Gemeinsam hatten sie einen Obstbaumkäfig gebaut: Stangen mit Gummibällen an den Verbindungsstellen, hundert Meter Drahtgeflecht und verstärkte Schutzgitter gegen Vögel, Eichhörnchen, Kaninchen und Maulwürfe. In den Boden eingelasse ne Bierfallen fingen die Nacktschnecken ein. Nach dem Tee spielten meine Eltern Scrabble; nach dem Abendbrot lösten sie das Kreuzworträtsel; dann schauten sie sich die Nachrichten an. Ein Leben in geordneten Bahnen.
    Vor sechs Jahren bemerkte ich einen großen Bluterguss am Kopf meines Vaters, etwas oberhalb der Schläfe, direkt am Haaransatz. Die Ränder gingen ins Gelbliche über, aber die Mitte war noch lila.
    »Was hast du denn da angestellt, Dad?« Wir standen gerade in der Küche. Meine Mutter hatte eine Flasche Sherry aufgemacht und band eine Papierserviette um den Hals, damit es nicht tropfte, wenn mein Vater nicht ganz fehlerfrei eingoss. Ich habe mich immer gefragt, warum sie nicht selbst einschenkte und sich die Papierserviette sparte.
    »Er ist gestürzt, der dumme Kerl.« Meine Mutter zog den Knoten mit exakt berechnetem Kraftaufwand zu; schließlich wusste sie besser als jeder andere, dass ein Papiertuch reißt, wenn man zu heftig daran zieht.
    »Ist alles in Ordnung, Dad?«
    »Mir geht’s prächtig. Frag die Regierung.«
    Später, als meine Mutter den Abwasch machte und wir zwei uns das Nachmittags-Snooker im Fernsehen ansahen, fragte ich: »Wie ist das passiert, Dad?«
    »Ich bin gestürzt«, antwortete er, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden. »Ha, ich wusste, jetzt spielt er über die Bande, diese jungen Burschen haben ja keine Ahnung. Immer nur einlochen, nicht wahr, als hätten sie noch nie was von Sicherheitsbällen gehört.«
    Nach dem Tee spielten meine Eltern Scrabble. Ich sagte, ich wolle nur zuschauen. Meine Mutter gewann, wie üblich. Aber mein Vater spielte so, dass ich dachte, er gebe sich gar nicht recht Mühe – er seufzte ständig, als habe ihm das Schicksal Buchstaben zugeteilt, die sich einfach nicht miteinander vertrugen.
    Jetzt sollte ich Ihnen wohl etwas über das Dorf erzählen. Eigentlich ist es eher eine große Kreuzung, an der etwa hundert Menschen in höflich-distanzierter Nachbarschaft zusammenleben. Es gibt eine dreieckige Grünfläche, die von unachtsamen Autofahrern ausgefranst wurde, eine Mehrzweckhalle, eine säkularisierte Kirche, ein Buswartehäuschen aus Beton, einen Briefkasten mit verkniffenem Mund. Meine Mutter sagt, der Dorfladen ist »gut für das Nötigste«, was bedeutet, dass die Leute dort einkaufen, damit er nicht zumachen muss. Der Bungalow meiner Eltern ist geräumig und gesichtslos. Er hat Fachwerkmauern, einen Zementboden und Doppelfenster: Bei Immobilienhändlern heißt das Landhaus-Stil – mit anderen Worten, da ist ein schräges Dach, das viel Stauraum für rostende Golfschläger und ausrangierte Heizdecken schafft. Meine Mutter konnte immer nur einen einleuchtenden Grund dafür nennen, hier zu wohnen – drei Meilen weiter gibt es einen sehr guten Markt für Tiefkühlkost.
    Drei Meilen in die andere Richtung

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