Der Zorn des Highlanders
antwortete Avery, »aber wir alle haben knapp eine halbe Meile von hier angehalten, um uns frisch zu machen. Alle wollten bei ihrer Rückkehr und dem Wiedersehen mit ihren Verwandten besonders gut aussehen.« Als der Mann nur nickte, folgte sie mit Gillyanne ihm, Cameron und Leargan in die Burg.
»Das Gebäude ist riesig«, flüsterte Gillyanne. »Dieser MacAlpin-Clan scheint nicht ganz arm zu sein.«
Als sie die große Halle betraten und die wertvollen Wandbehänge sahen, musste Avery ihr zustimmen. Sie nahmen links von Cameron an der langen Tafel Platz, gegenüber von Iain und Leargan. Avery bediente sich von dem reichlich aufgetischten Brot, Käse, Obst und dem kalten Braten, während Cameron Iain ihre Geschichte erzählte. Ein paar allzu private Erlebnisse ließ er weg, aber der aufmerksame Gesichtsausdruck des älteren Mannes zeigte, dass dieser vermutlich alles erriet, was ihm vorenthalten wurde.
Gerade als Iain ihr ein oder zwei Fragen stellen wollte, war vom Eingang ein lauter Seufzer zu hören, der alle Aufmerksamkeit auf sich zog. »Katherine«, murmelte Cameron, und Avery war klar, dass sie nun die Frau kennenlernen würde, die versuchte, Payton zu bekommen. Sie betrachtete forschend die junge Frau, die anmutig auf Cameron zueilte und sich, nachdem er aufgestanden war, in seine Arme warf.
Katherine war groß und vollbusig, und sie besaß die gleichen dichten, schwarzen Haare wie Cameron. Ihre makellose Haut hatte jene Elfenbeinfarbe, von der die Dichter schwärmten, und als sie mehrmals einen Blick in ihre Richtung sandte, stellte Avery fest, dass ihre Augen von einem herrlichen, tiefen Blau waren. Dass in diesen Blicken aber nicht nur die erwartete Neugier lag, sondern auch ein Schimmer von Berechnung, beunruhigte Avery. Während sie sich bemühte, Katherines überschwängliche Begrüßung als aufrichtige schwesterliche Zuneigung anzuerkennen, konnte sie das Gefühl nicht loswerden, dass alles nur gespielt war. Ein schneller Blick auf Gillyannes Miene milderte Averys Verdacht nicht.
»Komm, Schwester, gesell dich zu uns an den Tisch.« Cameron wunderte sich, dass Katherines liebevolle Begrüßung ihn nicht sonderlich erwärmt hatte.
»Aber diese Frau sitzt auf meinem Stuhl«, beschwerte Katherine sich und zeigte auf Avery.
»Katherine«, mahnte Cameron, einigermaßen erstaunt über diese launenhafte Unhöflichkeit, »du kannst neben Leargan sitzen.«
»Ich kann mich wegsetzen«, bot Gillyanne an. »Ich glaube, dass ich trotz der langen, anstrengenden Reise noch genug Kraft besitze, um mich einen Platz weiter zu setzen. Dann kann die erschöpfte Avery ebenfalls einen Platz weiterrutschen. Und Lady Katherine wird in der Lage sein, ihren hübschen Ar–«
»Gillyanne«, fuhr Cameron auf und schickte einen kurzen, tadelnden Blick zu Leargan und Iain, die beide sichtlich Mühe hatten, ihr Gelächter zu unterdrücken. »Katherine wird sich neben Leargan setzen.« Er schob seine Schwester zu jenem Platz. »Es ist nicht so weit weg, dass es die Unterhaltung erschwert.«
»Gott sei Dank hat er ihr nicht befohlen, sich neben mich zu setzen«, knurrte Gillyanne.
»Habt Ihr etwas zu sagen, Gilly?«, fragte Cameron, dessen Augen sich zu Schlitzen verengten.
Avery schob ihrer Cousine schnell ein Stück Apfel in den Mund und erwiderte: »Nein, Gillyanne hat nur das Essen gelobt.« Sie wünschte, der Tisch wäre nicht so breit, denn sie sehnte sich danach, Leargan einen Fußtritt zu geben, um ihn vom Grinsen abzuhalten.
»Wer sind denn diese Frauen, Cameron?«, wollte Katherine wissen, als sie sich neben Leargan setzte und Gillyanne anstarrte.
Cameron stellte die Frauen einander vor. Die Art und Weise, wie Avery und Gillyanne Katherine höflich zunickten und Katherine ihrerseits das Gleiche tat, ließ Cameron aufseufzen. Der Kampfplatz war nun offensichtlich abgesteckt. Obwohl er und Avery länger nicht von den Anschuldigungen gegen ihren Bruder gesprochen hatten, war es deutlich, dass beide Murray-Mädchen nach wie vor in Katherine eine Lügnerin sahen.
Er musterte den kühlen, selbstgefälligen Gesichtsausdruck Katherines, und ihm wurde bewusst, dass er nicht das gleiche große Vertrauen in sie hatte wie die Murray-Mädchen offensichtlich in Payton. Seine Schwester war eine Fremde für ihn, eine junge, wunderschöne Frau, die er nicht im Mindesten kannte. Dies machte ihn sowohl traurig als auch schuldbewusst. Wenn sie sich fremd waren, dann war er daran nicht unschuldig. Während seiner Aufenthalte auf
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