Der Zorn Gottes
Wände seiner allerheiligsten Trinkstätte. Er schmatzte und stieß
das rautenförmige Gitterfenster ein Stück weiter auf, um den
Duft der Kräuterbeete zu genießen. Manche Leute mieden das
Heilige Lamm; sie behaupteten, es sei über einem alten Leichenhaus
erbaut, und angeblich spukten hier Geister und Gespenster. Aber für
Cranston war es sein zweites Zuhause, und die Wirtsfrau
verehrte ihn beinahe wie einen Heiligen.
Vor Jahren war sie einmal von
einem Betrüger übers Ohr gehauen worden, der behauptete, er könne
Rotwein und Weißwein aus demselben Faß zapfen. Dummerweise
hatte sie einer Vorführung zugestimmt. Der Mann hatte ein Loch in die
Wand des Fasses gebohrt und sie aufgefordert, es mit dem Finger
zuzuhalten, während er das zweite Loch bohrte, aus dem der Weißwein
kommen sollte. Und dann hatte die unglückselige Frau dagestanden und
beide Löcher im Faß zuhalten müssen, während der
Gauner sich aus ihrer Geldbörse bediente. Sie war vor Schreck wie gelähmt
gewesen, denn wenn sie die Finger herausgezogen hätte, wäre das
ganze Faß ausgelaufen und hätte den Schankraum knöcheltief
unter Wein gesetzt, und außerdem wäre sie zum Gespött der
Leute geworden.
Zum Glück war Sir John
gekommen. Er hatte dem Schurken eine Kopfnuß verpaßt, ihr
geholfen, das Faß zu verstopfen, und als der Kerl wieder zu sich
gekommen war, hatte Cranston ihn mit heruntergelassener Hose draußen
vor die Schenke gestellt und ihm ein Schild um den Hals gehängt, das
ihn als Lügner und Betrüger bezeichnete.
Eben diese Wirtin kam jetzt
geschäftig auf ihn zu mit einem großen Becher Rotwein in der
einen und einer Schüssel Zwiebelsuppe in der anderen Hand.
Geistesabwesend lächelnd dankte Sir John ihr. Er nahm einen Schluck
Wein und überlegte, wie er eine andere Betrügerin, die mörderische
Rosamund, ihrer gerechten Strafe zuführen könnte. Olivers
einsamer Leichnam dort oben in der trostlosen Kammer ging ihm nicht aus
dem Kopf, dazu die kichernde Ehefrau und der speichelleckerische »Vetter«
im Söller darunter.
Cranston hörte Stimmen
und hob den Kopf, als der Reliquienhändler, den er in der Milk Street
gesehen hatte, hereingeschlichen kam.
»Ein sündiger
Gauner«, brummte er bei sich.
Der Reliquienhändler war
alt und hinkte ein wenig, aber er hatte ein durchtriebenes, kaltes,
schmales Gesicht, einen bohrenden Blick und einen Mund, so hart und
gespannt wie eine Schraubzwinge. Er war gut gekleidet, trug eine teure
Samttunika und weiche rote Lederstiefel, und in der Börse an seinem
bestickten Gürtel klimperte schwer das Geld. Grinsend winkte er dem
Coroner zu, aber der schaute ihn nur wütend an und senkte den Blick
auf seinen Becher. Eigentlich sollte er heimgehen und sich auf den Abend
vorbereiten, aber das Haus war leer, denn Lady Maude war mit den beiden
Kerlchen zu Verwandten im West Country gereist.
»Oh, komm doch mit,
John«, hatte sie gebettelt. »Die Ruhe wird dir guttun. Und du
weißt, wie sehr Bruder Ralph sich freuen wird, dich zu sehen.«
Cranston hatte betrübt
den Kopf geschüttelt und seine zierliche Frau in seine Bärenarme
genommen.
»Ich kann nicht, Lady«,
hatte er mißmutig erwidert. »Der Rat und der Regent bestehen
ausdrücklich darauf, daß ich in London bleibe.«
Lady Maude hatte sich von ihm
gelöst und ihn streng angeschaut.
»Ist das auch wahr, Sir
John?«
»Bei den Zähnen
Gottes!«
»Nicht fluchen«,
hatte sie gemahnt. »Sag's mir nur.«
Sir John hatte bei seiner
Ehre geschworen, aber es hatte doch eine Lüge daringesteckt. Er
konnte Bruder Ralph nicht ausstehen; dieser Mann war so ganz anders als
seine Schwester. Ehrlich gesagt, Ralph war der langweiligste Mann, den Cranston je
kennengelernt hatte. Seine einzige Leidenschaft war der Ackerbau, und Sir
John hatte einmal trocken zu Athelstan gesagt: »Wenn du einmal zwei
Stunden lang Ralph bei seinem Vortrag über die Zwiebelzucht zugehört
hast, dann reicht das für die Ewigkeit.«
Trotzdem hatte Cranston ein
schlechtes Gewissen. Ralph hatte ein gutes Herz, und Sir John vermißte
seine Frau und die beiden Kerlchen, wie sie dick und rund auf stämmigen
Beinchen auf ihren Vater zugestapft kamen, damit er ihnen die kleinen
Kahlköpfe streichelte. Er wunderte sich, weshalb Athelstan immer
lachte, aber wenn er den Ordensbruder fragte, machte der immer gleich ein
ernstes Gesicht,
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