Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zuckerkreml

Der Zuckerkreml

Titel: Der Zuckerkreml Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Sorokin
Vom Netzwerk:
Maurerkelle.

[Menü]
    PETRUSCHKA
    Der zwergwüchsige Pjotr Samuilowitsch Borejko, der als
     Possenreißer Petruschka an der Komischen Kanzlei des Kremls Dienst tat, kam nach dem
     Freitagskonzert für den Inneren Zirkel gegen drei Uhr morgens nach Hause. Der große
     rote Gaukleromnibus, der die Zwerge wie üblich nach der Vorstellung heimfuhr,
     brachte ihn bis vor die Haustür des neungeschossigen Ziegelbaus in der Malaja
     Grusinskaja.
    »Das grüne Peterle zum Ausgang!«, verkündete der Fahrer
     und öffnete die Tür.
    Der so Angesprochene, im hintersten Sessel dösend, schrak
     auf, kletterte vom Sitz und begab sich, ohne zu hasten, zur Tür. Weitere
     sechsundzwanzig Zwerge – alle noch geschminkt und in ihren Gauklerkostümen – hingen
     im Schummerlicht des Busses auf den unmäßig groß erscheinenden Sitzen und schliefen.
     Zwischen schlafenden Baba-Yaga-Hexen, Waldteufeln, Wassergeistern, Vogelscheuchen
     und Xanthippen hindurch ging Peterle nach vorn, streckte seine kleine Hand dem
     Fahrer entgegen und sagte mit rauer, knarrig quäkender Stimme:
    »Mach’s hübsch, Wolodja.«
    Der Fahrer umfasste das Händchen mit seiner tätowierten
     Pranke:
    »Schlaf gut.«
    Schwungvoll schaukelnd stieg Peterle die Stufen desBusses hinab und sprang auf den vom Dauernieselregen feuchten
     Asphalt. Die Tür schloss sich hinter ihm, der Bus fuhr davon. Unterdessen nahm der
     Zwerg die nächsten Stufen in Angriff – steinerne diesmal, die zur Haustür
     hinaufführten. Sein Petruschka-Kostüm war grün: dreizipfelige Mütze mit Schellen,
     Kaftan mit Riesenknöpfen, schillernde Hosen und Schnabelschuhe – alles in
     Petersiliengrün. Auch sein Gesicht war grün, mit roten Sommersprossen und großer,
     knallroter Nase. Auf dem Rücken baumelte ihm eine Balalaika, die selbst des Nachts
     grün funkelte.
    Drei weitere Petruschkas – rot, blau und golden – saßen
     schlafend im davongefahrenen Bus.
    Peterle zog die Chipkarte hervor, legte sie an das Schloss
     der hässlich zerkratzten und beschmierten Tür. Mit einem Surren ging sie auf. Der
     Zwerg schlüpfte in den schummrig beleuchteten Hausflur. Sauber war es hier nicht
     gerade, doch immerhin ohne Spuren von Vandalismus und Brandstifterei. Das Straßenamt
     hatte das Haus vor drei Jahren »Privaten« abgekauft.
    Peterle versuchte den Fahrstuhl zu rufen; keine Reaktion.
    »Himmel, Arsch und Gartenzwerg«, entfuhr Peterle sein
     Lieblingsfluch, da ihm einfiel, dass schon nicht mehr Freitag, sondern Samstag war,
     und am Wochenende durfte auf Geheiß der Moskauer Behörden in der ganzen ruhmreichen
     Stadt kein Fahrstuhl fahren. Es ging um Ökonomie – ein Fremdwort, das sich auch
     deutlicher sagen ließ: Man muss haushalten können.
    Peterle kraxelte zu Fuß bis in den fünften Stock. Von
     Stufe zu Stufe musste er das Bein werfen, sich kräftig zur Seite neigen dabei. Die
     Schellen klingelten im Takt, die grüne Balalaika schurrte über den Rücken. So
     schlingerte er sich durch die Etagen. Vor seiner Tür No. 52 angekommen, legteer dieselbe Schlüsselkarte wie unten an. Unter den Klängen von Horch was kommt von draußen rein öffnete sich die Tür.
    Augenblicklich ging in der Wohnung das Licht an, und ein
     großer beige-silberner Roboter kam gerollt. Jegorr hieß er.
    »Gutten Tag, Pjotr Samuilowitsch!«
    »Grüß dich, Jegorro«, seufzte Petruschka matt. Japsend
     nach dem beschwerlichen Aufstieg lehnte er an der niedrigen Garderobe.
    Der Roboter kam dicht an ihn herangefahren. Sein beiger
     Plastikbauch klappte auf, darin ein Lämpchen brannte und ein Gläschen Wodka stand.
     Dazu ertönte der Marsch Auf in den Kampf,
     Torero! aus Carmen. Das war seit
     vier Jahren nach jedem Nachtauftritt im Kreml das Ritual.
    Bald hatte Peterle genügend verschnauft, um das Glas aus
     dem Bauch des Roboters zu nehmen, stieß damit leicht gegen dessen silberne
     Schamkapsel, trank und stellte es zurück. Als Nächstes schnallte er die Balalaika ab
     und übergab sie dem Roboter. Immer noch an der Garderobe lehnend, zog er die Stiefel
     aus. Dann legte er das Petersilienkostüm ab, hängte alles über Jegorrs Arme. Der
     Roboter fuhr schnurrend damit zum Kleiderschrank.
    Nun stand Peterle in bloßen schwarzen Unterhosen da. Er
     räkelte sich matt, schlurfte gähnend ins Bad. Hier rauschte schon das Wasser aus dem
     Hahn, füllte schäumend die Wanne. Mit Befriedigung stellte Peterle fest, dass der
     Roboter dem Wasser heute nicht Apfeltraum beigegeben hatte – den

Weitere Kostenlose Bücher