Der Zuckerkreml
Maurerkelle.
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PETRUSCHKA
Der zwergwüchsige Pjotr Samuilowitsch Borejko, der als
Possenreißer Petruschka an der Komischen Kanzlei des Kremls Dienst tat, kam nach dem
Freitagskonzert für den Inneren Zirkel gegen drei Uhr morgens nach Hause. Der große
rote Gaukleromnibus, der die Zwerge wie üblich nach der Vorstellung heimfuhr,
brachte ihn bis vor die Haustür des neungeschossigen Ziegelbaus in der Malaja
Grusinskaja.
»Das grüne Peterle zum Ausgang!«, verkündete der Fahrer
und öffnete die Tür.
Der so Angesprochene, im hintersten Sessel dösend, schrak
auf, kletterte vom Sitz und begab sich, ohne zu hasten, zur Tür. Weitere
sechsundzwanzig Zwerge – alle noch geschminkt und in ihren Gauklerkostümen – hingen
im Schummerlicht des Busses auf den unmäßig groß erscheinenden Sitzen und schliefen.
Zwischen schlafenden Baba-Yaga-Hexen, Waldteufeln, Wassergeistern, Vogelscheuchen
und Xanthippen hindurch ging Peterle nach vorn, streckte seine kleine Hand dem
Fahrer entgegen und sagte mit rauer, knarrig quäkender Stimme:
»Mach’s hübsch, Wolodja.«
Der Fahrer umfasste das Händchen mit seiner tätowierten
Pranke:
»Schlaf gut.«
Schwungvoll schaukelnd stieg Peterle die Stufen desBusses hinab und sprang auf den vom Dauernieselregen feuchten
Asphalt. Die Tür schloss sich hinter ihm, der Bus fuhr davon. Unterdessen nahm der
Zwerg die nächsten Stufen in Angriff – steinerne diesmal, die zur Haustür
hinaufführten. Sein Petruschka-Kostüm war grün: dreizipfelige Mütze mit Schellen,
Kaftan mit Riesenknöpfen, schillernde Hosen und Schnabelschuhe – alles in
Petersiliengrün. Auch sein Gesicht war grün, mit roten Sommersprossen und großer,
knallroter Nase. Auf dem Rücken baumelte ihm eine Balalaika, die selbst des Nachts
grün funkelte.
Drei weitere Petruschkas – rot, blau und golden – saßen
schlafend im davongefahrenen Bus.
Peterle zog die Chipkarte hervor, legte sie an das Schloss
der hässlich zerkratzten und beschmierten Tür. Mit einem Surren ging sie auf. Der
Zwerg schlüpfte in den schummrig beleuchteten Hausflur. Sauber war es hier nicht
gerade, doch immerhin ohne Spuren von Vandalismus und Brandstifterei. Das Straßenamt
hatte das Haus vor drei Jahren »Privaten« abgekauft.
Peterle versuchte den Fahrstuhl zu rufen; keine Reaktion.
»Himmel, Arsch und Gartenzwerg«, entfuhr Peterle sein
Lieblingsfluch, da ihm einfiel, dass schon nicht mehr Freitag, sondern Samstag war,
und am Wochenende durfte auf Geheiß der Moskauer Behörden in der ganzen ruhmreichen
Stadt kein Fahrstuhl fahren. Es ging um Ökonomie – ein Fremdwort, das sich auch
deutlicher sagen ließ: Man muss haushalten können.
Peterle kraxelte zu Fuß bis in den fünften Stock. Von
Stufe zu Stufe musste er das Bein werfen, sich kräftig zur Seite neigen dabei. Die
Schellen klingelten im Takt, die grüne Balalaika schurrte über den Rücken. So
schlingerte er sich durch die Etagen. Vor seiner Tür No. 52 angekommen, legteer dieselbe Schlüsselkarte wie unten an. Unter den Klängen von Horch was kommt von draußen rein öffnete sich die Tür.
Augenblicklich ging in der Wohnung das Licht an, und ein
großer beige-silberner Roboter kam gerollt. Jegorr hieß er.
»Gutten Tag, Pjotr Samuilowitsch!«
»Grüß dich, Jegorro«, seufzte Petruschka matt. Japsend
nach dem beschwerlichen Aufstieg lehnte er an der niedrigen Garderobe.
Der Roboter kam dicht an ihn herangefahren. Sein beiger
Plastikbauch klappte auf, darin ein Lämpchen brannte und ein Gläschen Wodka stand.
Dazu ertönte der Marsch Auf in den Kampf,
Torero! aus Carmen. Das war seit
vier Jahren nach jedem Nachtauftritt im Kreml das Ritual.
Bald hatte Peterle genügend verschnauft, um das Glas aus
dem Bauch des Roboters zu nehmen, stieß damit leicht gegen dessen silberne
Schamkapsel, trank und stellte es zurück. Als Nächstes schnallte er die Balalaika ab
und übergab sie dem Roboter. Immer noch an der Garderobe lehnend, zog er die Stiefel
aus. Dann legte er das Petersilienkostüm ab, hängte alles über Jegorrs Arme. Der
Roboter fuhr schnurrend damit zum Kleiderschrank.
Nun stand Peterle in bloßen schwarzen Unterhosen da. Er
räkelte sich matt, schlurfte gähnend ins Bad. Hier rauschte schon das Wasser aus dem
Hahn, füllte schäumend die Wanne. Mit Befriedigung stellte Peterle fest, dass der
Roboter dem Wasser heute nicht Apfeltraum beigegeben hatte – den
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