Der Zuckerkreml
lag ein Kremlturm
aus Zucker. Der Erlöserturm, genauer gesagt. Der Sockel schon etwas angenagt, aber
der obere Teil mit der Uhr und den Glocken und dem doppelköpfigen Adler unversehrt.
Vor vierzehn Tagen war ein Paket von Slonows Frau im Lager eingetroffen mit zwei
Paar Wollsocken, einem Schal, Knoblauch, Zwiebäcken und einem Zuckerkreml, bei dem
nur der Borowizki-Turm fehlte. Slonows Tochter hatte ihn zu Weihnachten bekommen.
Den Borowizki-Turm hatten Mama und sie verspeist, den Rest beschlossen sie dem Vater
nach Ostsibirien zu schicken. Das Paket war fünf Monate unterwegs gewesen. Nach
Erhalt hatte Slonow den Kreml gleich auseinandergenommen: Die Mauern sowie die
Kathedralen und all die übrigen Gebäude aus dem Inneren gingen an die
Arbeitsverteiler, der Große Iwan an den Lagerkoch Tomilez. Drei Kremltürme – den
Kutafja-, den Nikolaus- und den Rüstkammerturm – hatte der Vorarbeiter selbst vor
dem Einschlafen gelutscht. Den Dreifaltigkeitsturm hatte er seinem alten Lagerkumpel
geschenkt, dem Koreaner Wolodja Pak. Den Erlöserturm aber wollte er »für den Humor«
stiften: Jeden Tag nach derMittagsration sollte irgendwer eine
lustige Geschichte erzählen, im Lagerjargon hieß das: eine echte Schote. War die
Geschichte lustig genug, ließ der Vorarbeiter den Vortragenden hinterher ein Stück
vom Turm abbeißen.
»Bedien dich«, sagte Slonow und reichte San Sanytsch den
Turm weiter. »Aber nur von unten.«
San-Sanytsch nahm den Turm in beide Hände, drehte ihn ein
bisschen, suchte eine passende Stelle aus und biss ein Eckchen vom Sockel ab, was
Mühe bereitete; der Zucker war hart.
Der Vorarbeiter nahm ihm den Turm wieder weg und wickelte
ihn ins Taschentuch, steckte es ein. Just in diesem Moment, wie auf Kommando,
dröhnte es aus dem grauen Lautsprecher:
»Essenfassen beendet. Gefangene: aufstehen! Arbeitsplätze
einnehmen!«
Die Arbeiter standen auf und trotteten zur Mauer. Slonow,
Sawoska, Hufeisen und Botscharow rauchten noch schnell eine.
»Sag mal, San Sanytsch, haben sie dich denn trotzdem
genommen bei diesem Parteidingsda?«, wollte Sawtschenko noch wissen.
»Haben sie«, schmatzte San-Sanytsch, noch mit dem Zucker
auf der Zunge. »Aber mit der Parteikarriere, da …« – schmatz – »… hat’s damals doch
nicht geklappt.«
»Wieso nicht?«, fragte Slonow, an seiner Rossija-Papirossa
ziehend, und blickte finster auf die drei noch eingeschweißten, übermannshohen
Paletten mit Hohlblocksteinen vor ihm. Auf den Verpackungen überall dasselbe
Lebendplakat: Ein braun gebrannter, muskelbepackter Bauarbeiter setzt, geschickt die
Kelle handhabend, einen Stein in die Mauer, greift mit der Linken den nächsten,
wirft ihn hoch, fängt ihn mit der anderen Hand und zwinkert frech mit demrechten Auge. Aus dem kommt ein goldener Funken gesprungen, der
sich öffnet zu einem schillernden Buchstabenfächer in ganzer Plakatbreite: WIR ERRICHTEN DIE GROSSE RUSSISCHE MAUER!
»Ach, irgendwie …« – schmatz!, mit Wohlbehagen schob
San-Sanytsch das Bröckchen vom Zuckererlöserturm in seinem beinahe zahnlosen Mund
hin und her –, »… irgendwie hat das damals nicht geklappt. Erst hab ich geheiratet.
Mich dann wieder scheiden lassen. Und auf einmal waren die Roten Wirren vorbei, und
die Partei gab’s nicht mehr.«
»Und kurz darauf gingen die Weißen Wirren los?«, fragte
Sawoska.
»Stimmt …« Schmatz. »Dann ging das mit den Weißen Wirren
los.«
»Das war, wie dieser Unhold Dreizeh auf dem Panzer in
Moskau einzog?«, vergewisserte sich Sanjok.
»Genau!«
San Sanytsch, vor der Mauer angekommen, streifte sich die
Handschuhe über.
»Und an all das kannst du dich noch erinnern. Richtig
erinnern!«, sagte Salman kopfschüttelnd. »Mensch, bist du alt.«
»Das kannst du laut sagen. Aber einholen musst du mich
erst noch«, lachte San Sanytsch und erklomm hurtig das Gerüst.
Die Arbeiter verteilten sich auf ihre Plätze. Unwillig
traten Sawtschenko und Timur zu dem großen Trog mit den Mörtelresten.
»Sollen wir neuen Mörtel mischen, Meister, oder nehmt ihr
den?«, wollte Sawtschenko wissen.
»Neuen mischen!«, beschied der Vorarbeiter und kletterte
auf die Mauer.
Und Petrow, als er auf dem Gerüst neben San Sanytsch zu stehen
kam, fragte: »Ein Parteisekretär, was ist das?«
»Ein Zhangguan 12 «, sagte San Sanytsch, ohne lange zu überlegen, und griff nach der
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