Der Zug War Pünktlich
der sanf-
tes graues Licht durchrinnen macht und die Wälder be- leuchtet, ferne Hügel … Dörfer und die dunkelgekleideten Gestalten, die die Augen beschatten, um dem Zuge nach- zusehen. Galizien … Galizien … Er bleibt so lange auf dem Klo, bis man ihn von außen durch heftiges Getrom- mel und wüstes Schimpfen heraustreibt.
Der Zug war pünktlich in Przemysl. Dort war es fast schön. Sie warten, bis alle den Zug verlassen haben, und wecken dann den Bärtigen. Der Bahnsteig ist schon ganz leer. Die Sonne ist durchgekommen und liegt prall auf staubigen Stein- und Sandhaufen. Der Bärtige weiß sofort Bescheid.
»Ja«, sagt er nur. Dann steht er auf und durchschneidet mit der Zange den Draht, so daß sie gleich aussteigen können. Andreas hat am wenigsten Gepäck, nur die Pack- tasche, die jetzt sehr leicht ist, wo die schweren Flie- gerangriffsbutterbrote weggegessen sind. Ein Hemd und ein paar Socken und eine Mappe Schreibpapier und die Feldflasche, die immer leer ist, und der Stahlhelm. Das Gewehr hat er ja vergessen, es steht in Pauls Garderobe hinter dem Kleppermantel.
Der Blonde hat einen Luftwaffenrucksack und einen Koffer und der Bärtige zwei Kartons und einen Tornister. Die beiden haben auch Pistolen. Jetzt erst, wo sie in die Sonne treten, sehen sie, daß der Bärtige Unteroffizier ist. Seine matten Litzen schimmern jetzt an dem grauen Kra- gen. Der Bahnsteig ist leer und traurig, und es sieht alles nach Güterbahnhof aus. Rechts liegen Baracken, viele Ba- racken, Entlausungsbaracken, Küchenbaracken, Aufent- haltsbaracken, Schlafbaracken und sicher eine Bordellba- racke, wo alles ganz garantiert hygienisch ist. Nichts als Baracken, aber sie gehen nach links, sie gehen weit nach
links, wo ein totes grasüberwachsenes Gleis ist und eine von Gras überwachsene Rampe vor einer Fichte. Dort le- gen sie sich hin, und sie können in der Sonne hinter den Baracken die alten Türme von Przemysl am San sehen.
Der Bärtige setzt sich nicht. Er legt nur sein Gepäck ab und sagt: »Ich gehe die Verpflegung holen und erkundige mich, wann der Zug nach Lemberg geht, nicht wahr? Schlaft nur ein bißchen.« Er nimmt ihnen die Urlaubs- scheine ab und verschwindet ganz langsam den Bahnsteig hinunter. Er geht wahnsinnig langsam, aufreibend lang- sam, und sie sehen, daß seine blaue Arbeitshose schmutzig ist, voll Flecken und mit kleinen Rissen wie von Stachel- draht; er geht sehr langsam, fast schwankend, und von weitem könnte man meinen, er sei von der Marine.
Es ist Mittag, sehr heiß, und der Schatten der Fichte ist schon mit Hitze durchsetzt, ein trockener Schatten ohne Milde. Der Blonde hat seine Decke ausgebreitet, und sie liegen mit den Köpfen auf dem Gepäck und blicken über die heißen dampfenden Dächer der vielen Baracken auf die Stadt. Irgendwo verschwindet der Bärtige zwischen zwei Baracken. Sein Gang ist so gleichgültig …
Auf einem anderen Bahnsteig steht ein Zug, der nach Deutschland fährt. Die Lokomotive dampft schon, und die Soldaten blicken mit bloßen Köpfen aus den Fenstern hin- aus. Warum steige ich nicht ein, denkt Andreas, das ist doch seltsam. Warum setze ich mich nicht in diesen Zug und fahre zurück an den Rhein? Warum kaufe ich mir nicht einen Urlaubsschein in diesem Land, wo man alles kaufen kann, und fahre nach Paris, Gare Montparnasse, und rolle die Straßen vor mir auf, eine nach der anderen, stöbere alle Häuser durch und suche, suche nach einer ein- zigen kleinen Zärtlichkeit von den Händen, die zu den
Augen gehören müssen. Fünf Millionen, das ist ein Ach- tel, warum sollte sie nicht darunter sein … warum fahre ich nicht nach Amiens an das Haus, wo die durchbrochene Backsteinmauer ist, und schieße mir eine Kugel vor den Kopf, an der Stelle, wo ihr Blick ganz nah und zärtlich, wirklich und tief in meiner Seele geruht hat, eine Viertel- sekunde lang? Aber diese Gedanken sind so lahm wie sei- ne Beine. Es ist herrlich, die Beine auszustrecken, die Bei- ne werden lang und länger, und er meint, er müsse sie bis nach Przemysl hinein ausstrecken können.
Sie liegen da und rauchen, sind träge und müde, wie man nur vom Schlafen und Hocken in einem Waggon werden kann.
Die Sonne hat einen weiten Bogen gemacht, als Andreas erwacht. Der Bärtige ist immer noch nicht zurück. Der Blonde ist wach und raucht.
Der Zug nach Deutschland ist abgefahren, aber es steht schon ein neuer Zug nach Deutschland da, und unten aus der großen Entlausungsbaracke kommen die grauen Ge-
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