Der Zug War Pünktlich
Lemberg fahren … nach Kolomea … und niemals mehr werde ich über die deutsche Grenze fah- ren. Das kann kein Mensch verstehen, warum ich nicht mit dem nächsten Zug zurückfahre und zu ihr gehe … warum nicht? Kein Mensch kann das verstehen. Aber ich hab Angst vor dieser Unschuld … und ich liebe sie sehr, und ich werde sterben, und sie wird nichts mehr von mir be- kommen als einen amtlichen Brief, darin steht: Gefallen für Großdeutschland …« Er nimmt einen sehr großen Schluck.
»Der Zug fährt so langsam, Kumpel, findest du nicht? Ich möchte weg, weit weg … und schnell weg … und ich weiß nicht, warum ich nicht umsteige und zurückfahre, ich hab ja noch Zeit … schneller soll der Zug fahren, viel schneller …«
Einige sind wach geworden und blinzeln mißmutig in das falsche Licht, das aus der Ebene kommt …
»Ich hab Angst«, murmelt der Unrasierte noch in An- dreas’ Ohr, »Angst hab ich, Angst vor dem Tode, aber mehr Angst noch davor, zurückzufahren und zu ihr zu ge- hen … deshalb will ich lieber sterben … vielleicht schreib
ich ihr …«
Die Erwachten kämmen sich durch die Haare, zünden Zigaretten an und blicken verächtlich nach draußen, wo zwischen scheinbar unfruchtbaren Äckern dunkle Hütten stehen; menschenleer ist das Land … da sind irgendwo Hügel … alles grau … polnischer Horizont …
Der Unrasierte ist ganz still. Er ist fast ohne Leben. Er hat die ganze Nacht nicht schlafen können; er ist erlo- schen, und seine Augen sind wie blinde Spiegel, seine Wangen sind gelb und eingesunken, und das Unrasiertsein ist jetzt schon ein Bart, ein schwarzrötlicher unter dickem Stirnhaar.
»Das sind ja gerade die Vorteile der 3,7 Pak«, sagt eine sehr korrekte Stimme, »das sind ja gerade die Vorteile … beweglich … beweglich …« – »Und klopft nur mal eben an«, lacht eine ebenso korrekte Stimme.
»Aber nein!« – »Ja, dafür hat ers Ritterkreuz bekommen
… und wir, wir haben nichts als die Hosen voll Scheiße gehabt …«
»Sie sollten eben auf den Führer hören. Weg mit den Adligen. Von Kruseiten hieß er. So’n Name. Wollte ver- dammt besser wissen …« Glücklich der Unrasierte, der jetzt schläft, wo das Geschwätz anfängt, und der wach sein kann, wenn alles still ist. Ich muß mich trösten, ich habe noch zwei Nächte, denkt Andreas … zwei lange, lange Nächte, da möchte ich allein sein. Wenn sie wüßten, daß ich für die Juden in Czernowitz und Stanislau und Kolo- mea gebetet habe, sie würden mich sofort verhaften lassen oder ins Irrenhaus stecken … 3,7 Pak.
Der Blonde reibt sich sehr lange die schmalen, gräßlich schummrigen Augen. Es ist etwas Grind in den Augen- winkeln, etwas Ekelhaftes, und doch bietet er Andreas
Brot an, weißes Brot mit Marmelade. Und immer hat er noch Kaffee in der Flasche. Es ist gut, etwas zu essen; Andreas spürt, daß er wieder sehr hungrig ist. Es ist fast wie Gier, und er kann seine Augen, die den großen Brot- laib umfassen, nicht mehr zähmen. Dieses weiße Brot ist herrlich.
»Ja«, seufzt der Blonde, »das hat meine Mutter noch ge- backen.« Später sitzt Andreas lange auf dem Klo und raucht. Das Klo ist der einzige Ort, wo man wirklich allein ist. Der einzige Ort auf der ganzen Welt, in der ganzen glorreichen Armee Hitlers. Es ist schön, da zu sitzen und zu rauchen, und er fühlt, daß die Trostlosigkeit wieder be- siegt ist. Die Trostlosigkeit ist nur ein Spuk kurz nach dem Erwachen, hier ist er allein, und alles ist bei ihm. Wenn er nicht allein ist, ist nichts mehr bei ihm. Hier ist alles, Paul und die Augen des geliebten Mädchens … der Blonde und der Unrasierte und der, der gesagt hat: Praktisch, praktisch haben wir den Krieg schon gewonnen, und der, der eben gesagt hat: Das sind die eminenten Vorteile der 3,7 Pak, sie sind alle bei ihm, und auch die Gebete sind lebendig, sehr nah und warm, und es ist schön, allein zu sein. Wenn man allein ist, ist man nicht mehr so einsam. Heute abend, denkt er, will ich wieder lange beten, heute abend in Lem- berg. Lemberg ist das Sprungbrett … zwischen Lemberg und Kolomea … immer näher fährt der Zug ans Ziel, und die Räder, die durch Paris gefahren sind, Gare Montpar- nasse, vielleicht durch Le Havre oder Abbéville, diese Rä- der fahren bis nach Przemysl … bis nahe heran an das Sprungbrett …
Draußen ist es ganz hell, aber an diesem Tage scheint die Sonne nicht durchzukommen, irgendwo in den dicken grauen Wolkenmassen schwebt ein heller Fleck,
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