Der Zug War Pünktlich
ich habe nichts, um sie zuzudecken … meinen Mantel habe ich verscheuert, und die Tischdecke haben wir beschmutzt … sie liegt ir- gendwo mit Weinflecken. Meinen Rock, ich könnte mei- nen Rock über sie decken … über den Ausschnitt ihres Kleides könnte ich meine Feldbluse decken, aber er spürt zugleich, daß er einfach zu müde ist, sich zu erheben und den Rock auszuziehen … nicht den Arm kann ich heben, und ich darf nicht einschlafen; ich habe noch so unendlich viel zu tun … so unendlich viel zu tun. Nur ein wenig ru- hen hier mit den Armen auf dem Tisch, dann will ich ja aufstehen, meine Feldbluse über sie decken und will beten
… will beten, knien vor dieser Couch, die so viele Sünden
gesehen hat, knien vor diesem reinen Gesicht, von dem ich lernen mußte, daß es eine Liebe ohne Begehren gibt … ich darf nicht einschlafen … nein, nein, ich darf nicht ein- schlafen …
Sein erwachender Blick ist wie ein Vogel, der plötzlich stirbt hoch oben im Flug und stürzt, stürzt in die Unend- lichkeit der Verzweiflung; aber Olinas lächelnde Augen fangen ihn auf. Er hat wahnsinnige Angst gehabt, daß es zu spät ist … zu spät, hinzueilen zu der Stelle, wohin er gerufen ist. Zu spät, zu dem einzig lohnenden Stelldichein zu eilen. Ihr lächelnder Blick fängt ihn auf, und sie beant- wortet die stumme, immer noch gequälte Frage und sagt leise:
»Es ist halb vier … keine Angst!« Und jetzt erst spürt er, daß ihre leichte Hand auf seinem Kopf liegt.
Ihr Gesicht liegt auf der gleichen Ebene mit seinem, und er brauchte nur eine winzige Kopfbewegung zu machen, um sie zu küssen. Es ist schade, denkt er, daß ich sie nicht begehre, schade, daß es kein Opfer für mich ist, sie nicht zu begehren … kein Opfer, sie nicht zu küssen und nicht zu wünschen, daß ich versinke in ihrem scheinbar ge- schändeten Schoß …
Und er berührt ihre Lippen mit den seinen, und es ist nichts. Sie blicken sich erstaunt lächelnd an. Da ist nichts. Es ist wie das Abprallen eines hilflosen Geschosses an ei- nem Panzer, den sie selbst nicht kennen.
»Komm«, sagt sie leise, »ich muß sehen, daß du etwas an die Füße bekommst, nicht wahr?«
»Nein«, sagt Andreas, »verlaß mich nicht, keine Sekun- de darfst du mich verlassen. Laß doch die Schuhe. Ich kann auch in den Strümpfen sterben, viele sind in den Strümpfen gestorben. Abgehauen in panischem Schrek-
ken, als der Russe plötzlich vor der Stellung stand, und mit schweren Wunden im Rücken gestorben, das Gesicht nach Deutschland, Wunde im Rücken, schlimmste Schande al- ler Spartaner. So sind viele gestorben, laß doch die Schu- he, ich bin so müde …«
»Nein«, sagt sie und blickt auf ihre Armbanduhr, »ich hätte die Uhr abgeben können, und du hättest deine Stiefel behalten. Man meint immer, man hätte nichts mehr ab- zugeben, und meine Uhr habe ich wirklich vergessen. Ich werde meine Uhr gegen deine Stiefel eintauschen, wir brauchen sie ja dann nicht mehr … nichts mehr …«
»Nichts mehr«, wiederholt er leise, und er hebt den Blick und umschreibt das Zimmer, und jetzt erst sieht er, daß es jämmerlich ist, alte Tapeten und eine ärmliche Ein- richtung: alte Sessel dort am Fenster und eine düstere Lie- gestatt.
»Ja«, sagt Olina leise, »ich werde dich retten. Erschrick nicht!« Sie lächelt in sein bleiches müdes Gesicht. »Die- sen Wagen des Generals schickt uns der Himmel. Hab nur Vertrauen und glaube mir: Wohin ich dich auch führen werde, es wird das Leben sein. Glaubst du mir?« Andreas nickt verstört, und sie wiederholt in sein Gesicht hinein wie eine Beschwörung : »Wohin ich dich auch führen werde, es wird das Leben sein. Komm!« Ihre Hände liegen auf seinem Kopf. »Es gibt winzige Nester in den Karpa- ten, wo uns niemand finden wird. Ein paar Häuser, eine kleine Kapelle, und nicht einmal Partisanen. In eins bin ich manchmal hingefahren, habe ein wenig zu beten ver- sucht und hab auf dem alten Stutzflügel des Pfarrers musi- ziert. Hörst du?« Sie sucht seinen Blick, der wieder über die beschmierte Tapete irrt, auf der Flaschen zerschlagen und klebrige Finger abgewischt worden sind. »Musizieren
… hörst du?«
»Ja«, stöhnt er, »aber die anderen, die beiden. Ich kann sie nicht mehr allein lassen. Unmöglich.«
»Das geht nicht. Nein!«
»Und der Fahrer«, fragt er, »was hattest du mit dem Fah- rer vor?« Sie stehen einander gegenüber, und es ist etwas wie Feindschaft zwischen ihren Augen. Olina versucht zu
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