Der zugeteilte Rentner (German Edition)
in Gang zu halten. Sie saßen lieber zusammen am Tisch und löteten, putzten und schraubten an Einzelteilen, die kaum ein anderer Mensch außer ihnen jemals zu Gesicht bekam.
Clara machte den Job nur wegen dem Geld. Auch wenn sie von den Gruppenführern angemotzt wurde – angeblich redete sie zuviel, machte zu viele Fehler oder arbeitete einfach zu langsam – dennoch gefiel ihr diese Arbeit. Sie sprach kaum mit anderen. Kaum ein anderer sprach mit ihr. Selbst in der nächtlichen Pause fand sie Ruhe zum Lesen und Lernen, denn in der Kantine bildeten sich immer nur vier Gruppen: die Russen, die Türken, die Deutschen und die Deutschen mit Behinderung – doch von den letzten hatte sie am aller wenigsten zu befürchten. Da gab es nur die taubstumme Arbeiterin, die sie nicht verstand; den letzten Beamten, der einer religiösen Sekte angehörte und mit niemandem sprach und ein kleiner schwarzhaariger Kerl, der Tom hieß und nur mit sich selbst redete. Die anderen Deutschen saßen still da, sprachen kaum miteinander und wenn doch, dann nur darüber, wie gemein, unfähig oder beides zusammen die Vorgesetzten waren. Bei den Russen dagegen wurde ständig geredet: Sie lachten, sie aßen zusammen, sie machten Witze auf Russisch über die alle wieder lachten und scheinbar ging es ihnen recht gut. Bei den Türken sah es kaum anders aus. Sie verhielten sich zwar zurückhaltender, aber auch sie redeten, lachten und verbrachten die Pause wie eine große Familie – was sie auch meistens waren.
Clara wollte einfach nur ihre Ruhe. Sechs Stunden Nachtschicht. Irgendwie ging die schon rum. Würde doch nicht für ewig sein. Die Rechnungen wollten doch bezahlt werden.
Persönliche Entgeltpunkte
Es klingelte an der Tür. Nicht eins von diesen kurzen Tönen, sondern vielmehr ein langes und schrilles Geräusch, das einen aufspringen und herbei eilen lässt. Vermutlich vergaß der Klingler seinen Finger auf dem Knopf.
Maximilian erwachte. Es war fast Mittag. Auf seiner Brust lag der Dackel und blickte ihm ins Gesicht. Der Hund schien noch zu überlegen, ob er bellen oder einfach weiter schlafen sollte. Maximilian ging es ähnlich. Aufstehen oder liegen bleiben? Vermutlich würde Clara sowieso jeden Augenblick aus ihrem Schlafzimmer kommen. Doch ihre Tür blieb verschlossen.
Mit dem Schwung eines Fünfunddsechzigjährigen setzte Maximilian sich auf, hob den Hund beiseite, wickelte sich aus der Decke und trottete in seinen Hawaii-Shorts zur Tür. Ein Blick durch den Türspion: ein junger Mann, kurze dunkle Haare. Ein ungeduldiger Blick. Hüpfte von einem Bein aufs andere, wackelte dabei mit Bauch und Hintern, die sich unübersehbar hervorstreckten.
Maximilian öffnete. Zuerst wollte der junge Mann reinkommen und seine große Tasche abstellen, als er aber den alten Mann in den Shorts entdeckte, blieb er stehen und stotterte herum. Hinter Maximilian türmte sich ein Sammelsurium an Klamotten und Sachen, die gar nicht zur klinisch leeren Wohnung von Clara passten.
„Kann ich Ihnen helfen?“
Der junge Mann ging zwei Schritte zurück und verlor dadurch noch mehr an Größe. Er blickte auf die Nummer des Apartments und den Namen der Klingel. Langsam schob sich sein runder Bauch nach vorne, genauso langsam bildeten sich die ersten Worte auf seinen Lippen.
„Hier wohnt doch Clara, oder?“
„Das ist schon möglich. Das hängt ganz davon ab, was Sie wollen!“
„Wer sind Sie?“
„Das könnte ich Sie auch fragen!“
„Sie sind nicht Clara!“
„Das will ich doch hoffen. Die leichte Brustbildung ist bei mir altersbedingt.“
„Was? Wer sind Sie überhaupt?“
„Himmel ist mein Name. Maximilian Himmel. Ich wohne hier.“
In dem Augenblick fiel ihm die Brötchentüte auf, die der junge Mann in seiner Hand hielt.
„Ich habe mich schon gefragt“, fuhr er fort und griff nach der Verpackung, „wie das Essen in diesen Haushalt gelangt. Haben Sie auch Kuchen mitgebracht?“
Der junge Mann ruderte mit seinen Armen in der Luft: „Ich verstehe nicht recht. Sie können hier nicht wohnen.“
„Ich muss Sie enttäuschen. Ich wohne hier. Mit Clara! Und wer sind Sie?“
In dem Augenblick ging die Tür eines Nachbarn auf, ein halbes Dutzend Kinder liefen schreiend in den Gang, dann knallte die Tür zu. Für einen Augenblick überdeckten die nachbarschaftlichen Geräusche jedes Wort.
„Was?“
„Was? Ich? Ich bin Finn, ihr Freund.“
„Sehen Sie: Von Ihnen hat sie mir auch nichts erzählt. Das ist jetzt wohl eine ziemlich peinliche Situation für uns
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