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Der zugeteilte Rentner (German Edition)

Der zugeteilte Rentner (German Edition)

Titel: Der zugeteilte Rentner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Schulte
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gemischt mit einem Rasseln und einem Piepsen.
Sie holte tief Luft, um Maximilian anzubrüllen, aber dann stoppte sie. So wie er da lag, wirkte er schutzlos. Sie fühlte die Nachtkälte. Die Heizung war wieder aus. Im Winter wurde es manchmal so kalt in ihrer Wohnung, dass sie ihren Atem sah, wie er langsam geisterhaft durchs Zimmer schwebte. Ohne länger darüber nachzudenken, nahm Clara eine zweite Decke und legte sie über Maximilian. Jetzt war sie auch noch nett zu ihm. Er verdiente es nicht, nichts davon. Sie zog die Decke fester um ihn, zumindest sollte er nicht frieren. Dann ging sie zur Nachtschicht.

Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
    Das Band lief an. Sofort wurden die ersten Sendungen in die Briefsortiermaschine eingezogen. Mit einem lauten Plop verschwanden sie aus der Reihe, die Clara aufstellte. An keiner Ecke durfte etwas raus stehen. Dann folgte bereits die nächste Kiste mit Briefen. Auf das Band geschüttet, aufgestellt, in die Reihe geschoben und zuschauen, wie sie eingezogen wurden.
Clara hasste ihren Postjob. Abends um 22.00 Uhr ging ihre Schicht meistens los, manchmal auch später. Die ganze Nacht liefen die Maschinen. Meistens stand sie mit ihrer Kollegin Funda an den Kurzbriefen. Landete sie bei den Langbriefen, musste sie schwerer heben und schneller arbeiten. Einer packte die Post vorne drauf, der andere leerte die Fächer in die entsprechenden Wannen und stellte sie anschließend auf das Förderband. Dann drückte sie einmal den passenden Knopf für die Postleitzahl und steckte den ausgedruckten Code-Zettel an die Kiste, die vom Band abgeholt wurde – immer und immer wieder. Wie ein Wurm schlängelte sich das Förderband unter dem Blechdach des Postzentrums entlang – im Winter war es hier zu kalt, im Sommer staute sich die Hitze. Dazu hämmerten die Maschinen; selbst aus nächster Entfernung verstand Clara ihre Kollegin kaum – und das lag nicht am türkischen Akzent. Ruhig wurde es nur dann, wenn eine der Frauen beim Aufstellen einen sperrigen Brief übersah. Mit einem lauten Knall verabschiedete sich die Maschine, ein Pfeifen setzte ein und einer der Techniker musste gerufen werden. In dem Postzentrum gab es drei, die diese Arbeit verrichteten. Clara nannte sie Tick, Trick und Track – sie glichen sich wie Drillinge: derselbe schlürfende Gang, die gleichen blauen Anzüge, der gleiche Buckel, die gleichen Gesundheitsschuhe und die gleichen Sprüchen, die sie sich tagsüber für Clara und ihren Kolleginnen ausdachten. Frauen waren unfähig, das war ihre Meinung, meistens machten sie etwas kaputt, sobald man sie nur an eine Maschine ließ. Nur einmal am Tag bekamen die Techniker die Möglichkeit, sich ihren Briefsortiermaschinen zu widmen. Mit Hochdruck jagten sie jeden Staubkorn aus den Ritzen und Spalten, setzten neue Bänder ein, wechselten Walzen aus, überprüften das Programm, stellten es neu ein und testeten das System – 99,9 % Leserate: davon träumten sie, meistens war es weniger. So ging das jeden Tag. Dann saßen sie in ihrem kleinen Zimmer am Rande der großen Halle und warteten. Zwischen Blechregalen und Sortierkästchen drängten sie ihre bauchigen Körper und lauschten dem Klang ihrer Maschinen und Laufbänder. Immer, wenn eine Sirene ertönte, zuckten sie zusammen. Irgendwas stimmte nicht. Meistens bekamen die Arbeiter das Problem von alleine gelöst, ansonsten erschien ein paar Minuten später eine kleinwüchsige Frau mit russischem oder arabischem Akzent und versuchte mit ein paar unverständlichen Worten, das Problem zu beschreiben. Doch meistens hörten sie gar nicht zu, es war immer das gleiche Problem. Das einzige, das die Männer hören wollten, war das schnelle pressluftartige Hämmern der Maschinen, es klang wie eine riesige Lokomotive, die gefüttert werden wollte. Tschik, tschak, tschik, tschak. Statt Kohle gab es Briefe, die man dem nimmersatten Schlund zuführte. Hinten kamen kleine Häufchen in Form von Kisten heraus, die auf Transportwagen landeten und die anschließend von LKWs abgeholt wurden. Letztendlich zählten nur die Abholzeiten der Post. Wenn die Maschinen ausfielen, blieben Briefe und Päckchen stehen; und das bedeutete schlechte Prozentzahlen auf dem Leistungsdiagramm. Es gab nur ein Ziel: eine Halle ohne Post. Alles musste raus. Auch die letzte Kiste landete irgendwann auf einem LKW, der sie fort brachte.
Aufgrund dieser Zielsetzung verstimmte es die Techniker, wenn eine der Maschinen ausfiel – obwohl es ihre Arbeit war, sie ständig

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