Der Zusammenbruch
Tasche, und während er sie auf das Bett warf, rief er:
»Ach, Freunde, Frankreich ist tot, nun hat uns Bazaine auch verraten!«
Jean, der mit zwei Kopfkissen im Rücken vor sich hinschlummerte, wachte auf.
»Wieso verraten?«
»Ja, er hat Metz und sein Heer übergeben. Da geht die Geschichte von Sedan wieder los, und diesmal ist's mit unserm Fleisch und Blut zu Ende!«
Dann nahm er die Zeitung wieder auf und las:
»Hundertfünfzigtausend Kriegsgefangene, hundertdreiundfünfzig Adler und Fahnen, fünfhundertundein Feldgeschütz, sechsundsechzig Mitrailleusen, achthundert Festungsgeschütze, dreihunderttausend Gewehre, zweitausend Militärfuhrwerke, Ausrüstung für fünfundachtzig Batterien ...«
Und er gab ihnen noch weitere Einzelheiten an: Marschall Bazaine mit seinem Heer, in Metz eingeschlossen, zur Untätigkeit gezwungen, nichts unternehmend, um den ihn umgebenden eisernen Gürtel zu sprengen; seine dann folgenden Berichte an Prinz Friedrich Karl, seine dunklen, zögernden politischen Pläne, sein Ehrgeiz, eine entscheidende Rolle zu spielen, über die er sich selbst indessen noch gar nicht im klaren zu sein schien; dann all seine verwickelten Unternehmungen, die verdächtigen, lügnerischen Botschaften an Herrn von Bismarck, an König Wilhelm, an die Kaiserin-Regentin, die sich schließlich geweigert hatte, mit dem Feinde auf der Grundlage von Gebietsabtretungen weiterzuverhandeln; und das unentrinnbare Verhängnis, das Schicksal sein Werkvollendend, Hungersnot in Metz, die Übergabe erzwungen, Führer und Soldaten derart heruntergekommen, daß sie die harten Bedingungen des Siegers annehmen mußten. Frankreich hatte kein Heer mehr.
»Herrgott!« fluchte Jean dumpf vor sich hin; alles hatte er nicht verstanden, aber für ihn war Bazaine bis dahin der große Feldhauptmann geblieben, der einzige noch mögliche Retter. »Also, was sollen wir nun machen? Was wird aus denen in Paris?«
Der Doktor war gerade bis zu den unheilvollen Nachrichten aus Paris gelangt. Er machte sie darauf aufmerksam, daß die Zeitung am 5. November ausgegeben war. Die Übergabe von Metz hatte am 27. Oktober stattgefunden, und die Nachricht konnte erst am 30. in Paris bekanntgeworden sein. Nach den bei Chevilly, bei Bagneur, bei Malmaison erlittenen Schlägen, nach dem Kampf und dem Verlust von Le Bourget fiel diese Nachricht wie ein Donnerschlag auf die verzweifelte, durch die Schwäche und Untätigkeit der Regierung der nationalen Verteidigung gereizte Bevölkerung nieder. Am nächsten Tage, dem 31. Oktober, brach denn auch ein richtiger Aufstand los; eine Riesenmenge hatte den Platz vor dem Stadthause vollgepfropft und war in die Säle gedrungen, wo sie die Mitglieder der Regierung als Gefangene festhielt, bis die Nationalgarde sie aus Furcht befreite, man möchte sonst die Umsturzmänner triumphieren sehen, die die Kommune ausriefen. Und die belgische Zeitung fügte die beleidigendsten Betrachtungen für das große Paris hinzu, das der Bürgerkrieg im Augenblicke, wo der Feind vor den Toren stand, zerriß. War das nicht die endgültige Zersetzung, die Pfütze von Dreck und Blut, in der eine ganze Welt zugrunde ging?»Das ist auch wahr,« flüsterte Jean ganz blaß, »man prügelt sich auch nicht, wenn die Preußen da sind.«
Henriette, die noch nichts gesagt hatte und über diese politischen Angelegenheiten auch nicht gern den Mund auftun wollte, konnte einen Ausruf nicht zurückhalten. Sie dachte lediglich an ihren Bruder.
»Mein Gott! Wenn Maurice sich mit seinem Tollkopf nur nicht in diese Geschichte mengt!«
Es entstand Stille, und der Doktor fing als glühender Vaterlandsfreund wieder an:
»Einerlei, wenn auch keine Soldaten mehr da sind, werden schon neue wachsen. Metz hat sich ergeben, selbst Paris könnte sich auch mal übergeben, und Frankreich würde deshalb doch noch nicht vergehen ... Ja, wie unsere Bauern sagen, der Magen ist noch gesund und wir werden schon weiterleben!«
Aber sie sahen wohl, das war nur erzwungene Hoffnungsfreudigkeit. Er sprach von dem neuen Heere, das sich an der Loire bildete, und von seinem ersten Auftreten in der Gegend von Arthénay, das nicht sehr glücklich verlaufen war: es mußte sich erst an den Krieg gewöhnen, dann würde es schon auf Paris ziehen. Ganz fieberhaft erregt war er über die Aufrufe Gambettas, der am 7. Oktober im Ballon von Paris abgegangen war und sich am nächsten Tage in Tours eingerichtet hatte; sie riefen alle Bürger zu den Waffen und sprachen in einer
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