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Der Zusammenbruch

Der Zusammenbruch

Titel: Der Zusammenbruch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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zugleich so männlichen und doch so verständigen Weise, daß das arme Land sich dieser Diktatur der öffentlichen Wohlfahrt unterwarf. Und war nicht auch von der Bildung einer weiteren Heeresgruppe im Norden die Rede, einer andern im Osten, so daß lediglich durch die Kraft des Glaubens die Soldaten nur so aus dem Boden schossen! Das war das Erwachen der Provinz, derunbezähmbare Wille, alles Fehlende zu schaffen, den Kampf bis zum letzten Sou und dem letzten Blutstropfen fortzusetzen.
    »Bah!« schloß der Doktor und stand auf, um fortzugehen, »ich habe schon manchem Kranken das Leben abgesprochen, der acht Tage später wieder auf den Beinen stand.«
    Jean mußte lächeln.
    »Herr Doktor, machen Sie mich schnell gesund, damit ich wieder auf meinen Posten da hinten ziehen kann.«
    Aber in ihm sowohl wie in Henriette blieb doch eine große Traurigkeit über diese neuen schlechten Nachrichten zurück. Am selben Abend hatten sie einen Schneesturm, und als Henriette am nächsten Tage ganz zitternd aus dem Lazarett zurückkam, erzählte sie ihm, Gutmann sei gestorben. Diese starke Kälte nahm den zehnten von ihren Kranken mit und leerte die Reihen der Betten. Der unglückliche Stumme, dem die halbe Zunge fortgerissen war, hatte zwei Tage lang geröchelt. Während der letzten Stunden war sie am Kopfende seines Bettes sitzengeblieben, mit so flehenden Blicken hatte er sie angesehen. Sie erzählte, wie ihm die Augen voller Tränen gestanden hätten; er hatte ihr vielleicht seinen richtigen Namen sagen wollen, den Namen des fernen Dorfes, in dem Weib und Kinder auf ihn warteten. Und so war er unbekannt hinübergegangen und hatte ihr mit tastenden Fingern einen letzten Kuß zugeworfen, wie um ihr noch einmal für ihre freundliche Fürsorge zu danken. Sie war allein zum Friedhof mitgegangen, wo die gefrorene Erde, die schwere Erde der Fremde, mit Schneeballen untermischt, dumpf auf seinen Fichtensarg fiel.
    Am nächsten Morgen sagte Henriette dann bei ihrer Rückkehr:
    »Das ›Arme Kind‹ ist auch tot.«Um diesen weinte sie noch.
    »Wenn Sie ihn in seinem Fiebertraum gesehen hätten! Er nannte mich ›Mama! Mama!‹ und seine Arme, die er nach mir ausstreckte, waren so dünn, daß ich ihn auf den Schoß nehmen mußte ... Ach, der Unglückliche! Sein Leiden hatte ihn so heruntergebracht, daß er nicht viel mehr wog als ein kleiner Junge ... Ich habe ihn gewiegt, damit er in Ruhe sterben könnte, jawohl! Richtig gewiegt; er nannte mich ja auch Mutter, und ich war doch nur ein paar Jahr älter als er ... Er weinte, und ich konnte meine Tränen auch nicht zurückhalten und muß immer noch weinen ...«
    Sie erstickte und mußte abbrechen.
    »Als er starb, stammelte er immer wieder die Worte, mit denen wir ihn anredeten: ›Armes Kind, armes Kind!‹ ... Ach ja, gewiß sind sie alle arme Kinder, all die braven Jungens, und manche sind noch so jung, und der scheußliche Krieg nimmt ihnen ihre Gliedmaßen und läßt sie so leiden, ehe sie in die Grube fahren!«
    Jeden Tag kam Henriette jetzt derartig niedergeschlagen von einem neuen Todeskampfe nach Hause, und dies Leiden der andern brachte sie noch näher zusammen in den traurigen Stunden, die sie so allein in der großen friedlichen Kammer verbrachten. Und doch waren es sehr süße Stunden; denn es war eine Zuneigung zwischen ihnen entstanden, die sie für geschwisterlich hielten, da ihre Herzen sich allmählich verstehen gelernt hatten. Er hatte sich mit seiner nachdenklichen Sinnesart an ihrer fortdauernden Vertraulichkeit aufgerichtet; und wenn sie ihn so gut und verständig sah, dachte sie gar nicht mehr daran, daß er, bevor er den Tornister getragen hätte, den Pflug geführt habe. Sie verstanden sich ausgezeichnet und führten sehr gut Haus miteinander, wie Silvinemit ernstem Lächeln sagte. Es war auch gar keine Scham voreinander zwischen ihnen entstanden, und sie pflegte sein Bein weiter, ohne daß ihre klaren Blicke sich auch nur je hätten abwenden müssen. Stets in Schwarz, in ihren Witwenkleidern schien sie gar keine Frau mehr zu sein.
    Jean mußte aber an den langen Nachmittagen, an denen er allein saß, darüber nachdenken. Was er für sie fühlte, war eine Art unendlicher Dankbarkeit, eine hingebende Hochachtung, die jeden Gedanken an Liebe wie eine Heiligtumsschändung von sich wies. Und trotzdem sagte er sich, wenn er eine solche Frau gehabt hätte, so zart, so sanft, so tätig, dann wäre das Leben für ihn ein Dasein im Paradiese gewesen. Sein Elend, die

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