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Der Zusammenbruch

Der Zusammenbruch

Titel: Der Zusammenbruch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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Anteil an gewissen Verwundeten. Er verlangte von ihnen zu hören.
    »Und was macht das ›Arme Kind‹ heute?«
    Das war ein kleiner Soldat vom fünften Linienregiment, der sich freiwillig gestellt hatte und noch nicht zwanzig Jahre alt war. Er hatte den Beinamen »Armes Kind« behalten, weil er diese Worte ohne aufzuhören wiederholte, wenn er von sich sprach; und als er eines Tages nach dem Grunde dafür gefragt wurde, hatte er geantwortet, seine Mutter hätte ihn immer so genannt. Ein armes Kind in der Tat, denn er starb an einer Brustfellentzündung, die ihm durch eine Wunde in der linken Seite beigebracht war.
    »Ach, der liebe Junge!« sagte Henriette, die eine mütterliche Zuneigung zu ihm gewonnen hatte; »es geht ihm heute nicht gut, er hat den ganzen Tag gehustet. Es zerreißt mir das Herz, wenn ich ihn so höre.«
    »Und Ihr Bär, Ihr Gutmann?« fing Jean mit einem schwachen Lächeln wieder an. »Hat der Doktor bessere Hoffnung?«
    »Ja, vielleicht kann er ihn retten. Aber er leidet gräßlich.«
    Obwohl das Mitleid mit ihm sehr groß war, konnten sie beide nicht von Gutmann ohne eine gewisse gerührte Heiterkeit sprechen. Als die junge Frau am ersten Tage ins Lazarett gekommen war, war sie ganz erschrocken gewesen, in einem bayrischen Soldaten den Mann mit dem roten Haar und Bart, den blauen Augen und der dicken Nase wiederzufinden, der sie in Bazeilles auf seinen Armen davongetragen hatte, während ihr Mann erschossen wurde. Er hatte sie gleichfalls wiedererkannt; aber er konnte nicht sprechen, denn eine in den Nacken eingedrungene Kugel hatte ihm die halbe Zunge weggerissen. Und nachdem sie zwei Tage lang jedesmal mit einem unwillkürlichen Schauder vor Schrecken zurückbebte, wenn sie sich seinem Bette näherte, wurde sie doch endlichdurch die verzweifelten und sanften Blicke überwunden, mit denen er ihr folgte. War er nicht länger das Ungeheuer mit der blutbespritzten Haut und den vor Wut verdrehten Augäpfeln, dessen Andenken sie mit allen Schrecken der Erinnerung quälte? Es kostete sie eine große Anstrengung, dies Untier jetzt noch in diesem Unglücklichen mit dem gutmütigen, anstelligen Wesen bei seinen grausamen Leiden wiederzuerkennen. Der so selten vorkommende Fall rührte durch sein plötzliches Siechtum das ganze Lazarett. Man wußte nicht einmal genau, ob er wirklich Gutmann hieße, aber man nannte ihn so, weil der einzige Laut, den er hervorbringen konnte, in einem Gebrumm zweier Silben bestand, die beinahe diesem Namen glichen. Im übrigen glaubte man nur, er wäre verheiratet und hätte Kinder. Er mußte wohl ein paar Worte französisch verstehen, denn zuweilen antwortete er durch heftiges Kopfnicken. Verheiratet? Ja, ja! Kinder? Ja, ja! Die Rührung, die er eines Tages beim Anblick von Mehl empfand, führte zu der weiteren Annahme, er könne Müller sein. Weiter nichts. Wo mochte die Mühle liegen? In welchem entfernten Orte Bayerns weinten wohl jetzt seine Frau und Kinder? Mußte er unerkannt sterben, namenlos, und die Seinigen dort hinten in ewiger Erwartung zurücklassen?
    »Heute«, erzählte Henriette Jean eines Abends, »hat Gutmann mir Kußhände zugeworfen ... Ich kann ihm nicht mehr zu trinken geben oder ihm die geringste Kleinigkeit besorgen, ohne daß er die Finger an die Lippen führt und mir durch seine Bewegungen die glühendste Dankbarkeit ausdrückt ... Sie dürfen nicht lachen, es ist zu schrecklich, wenn man so vor der Zeit lebendig begraben wird.«
    Gegen Ende Oktober ging es Jean indessen besser. DerDoktor neigte dazu, das Drän zu entfernen, wenn er auch noch einen gewissen Argwohn beibehielt; und die Wunde schien ganz rasch vernarben zu wollen. Der Genesende konnte aufstehen und brachte Stunden mit Herumlaufen in der Kammer zu, oder indem er vor dem Fenster saß, wo der Flug der Wolken ihn traurig stimmte. Dann ärgerte er sich und redete davon, er müsse sich mit irgend was beschäftigen oder wolle sich auf dem Hofe nützlich machen. Eine der geheimen Quellen seines Unbehagens war die Geldfrage, denn er glaubte, seine zweihundert Francs wären in den sechs langen Wochen längst ausgegeben. Wenn Vater Fouchard weiter gute Miene machte, dann mußte also Henriette ihn wohl bezahlen. Dieser Gedanke war ihm peinlich; er wagte auch nicht, sich mit ihr darüber auseinanderzusetzen, und empfand es als eine wahre Erleichterung, als sie übereinkamen, daß er für einen neuen Knecht ausgegeben werden sollte, der mit Silvine die Sachen im Hause zu besorgen hatte, während

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