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Der Zusammenbruch

Der Zusammenbruch

Titel: Der Zusammenbruch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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Scheite geheftet, nie etwas tat, sondern in wachsender Starrheit nur in einem einzigen Gedanken zu leben und zu sterben schien. Sie wechselten sicher den ganzen Tag keine zwanzig Worte, und jedesmal, wenn sie, die doch im Hause hin und wieder ging, sich, ohne es zu wollen, eine Neuigkeit von draußen entschlüpfen ließ, dann hielt er sie durch eine Handbewegung auf; das ging so weit, daß keinerlei Vorgänge des Lebens da draußen mehr zu ihm drangen, auch nichts von der Belagerung von Paris, den Niederlagen an der Loire und den täglichen Leiden der Besetzung. Aber ob der Oberst auch in diesem freiwilligen Grabe nichts mehr vom Tageslicht sehen wollte, ob er sich auch die Ohren verstopfte, all das schreckliche Unglück, all die tödliche Trauer drang doch zu ihm durch die Ritzen mit der Luft herein, die er atmete; denn von Stunde zu Stunde war es, als wirkte das Gift in ihm immer schärfer und als werde sein Hinsterben immer sicherer.
    Während dieser ganzen Zeit lebte Delaherche von der Hand in den Mund; aber er gab sich in seinem Lebensdrange doch alle Mühe, seine Fabrik durch eigene Tätigkeit wieder zu eröffnen. Zunächst hatte er bei der unter Arbeitern und Abnehmern herrschenden Verwirrung nur einige Arbeitszweigewieder in Betrieb nehmen können. Dann aber verfiel er, um in seiner traurigen Muße doch etwas zu tun, auf den Gedanken, den Bestand seines Hauses vollständig aufzunehmen und gewisse Verbesserungen zu überlegen, von denen er seit langer Zeit träumte. Um ihm bei dieser Arbeit zu helfen, hatte er gerade einen jungen Mann zur Hand, der nach der Schlacht bei ihm gestrandet war, den Sohn eines seiner Abnehmer. Edmond Lagarde war in Passy in dem kleinen Modegeschäft seines Vaters groß geworden, war im Alter von kaum zwanzig Jahren Sergeant im fünften Linienregiment geworden und hatte sich, obwohl er nur wie ein Achtzehnjähriger aussah, wie ein Held mit solcher Erbitterung herumgeschossen, daß er gegen fünf Uhr mit durch eine der letzten Kugeln zerschmettertem linken Arm durch das Tor von Ménil noch hereingekommen war; und Delaherche hatte ihn, nachdem die Verwundeten aus seinen Schuppen fortgebracht worden waren, aus Gutmütigkeit bei sich behalten. Auf diese Weise bildete Edmond jetzt einen Teil der Familie, er aß, schlief und lebte dort, nachdem er nun geheilt war, und half dem Tuchfabrikanten als Sekretär, bis er wieder nach Paris gelangen könnte. Dank dessen Schutz und auf das förmliche Versprechen hin, nicht entfliehen zu wollen, ließen die preußischen Behörden ihn in Ruhe. Er war blond, mit blauen Augen, hübsch wie ein Mädchen und übrigens von so furchtsamem Zartgefühl, daß er beim geringsten Wort errötete. Seine Mutter hatte ihn erzogen und sich an der Bezahlung seiner aus den Einkünften ihres kärglichen Geschäfts bestrittenen Schuljahre verblutet. Er liebte Paris leidenschaftlich und betrauerte es in Gilbertes Gegenwart, ein verwundeter Cherub, den die junge Frau kameradschaftlich pflegte.
    Schließlich war der Haushalt auch noch um den neuen Gast vermehrt, Herrn von Gartlauben, einen Landwehrhauptmann, dessen Regiment in Sedan die aktiven Truppen ersetzt hatte. Trotz seines bescheidenen Ranges war er eine einflußreiche Persönlichkeit; denn der in Reims eingesetzte Generalgouverneur, der über die ganze Gegend eine unbeschränkte Machtfülle ausübte, war sein Onkel. Auch bildete er sich etwas darauf ein, daß er Paris so liebte, daß er dort gelebt habe und das dortige Benehmen und seine Feinheiten wohl kenne; und tatsächlich gab er sich den äußerlichen Anstrich eines wohlerzogenen Mannes und verbarg unter diesem Überzüge seine angeborene Roheit. Stets eng in seine Uniform eingeschnürt, war er groß und dick; er log hinsichtlich seines Alters, denn er war über seine fünfundvierzig Jahre ganz verzweifelt. Wäre er klüger gewesen, hätte er gefährlich werden können; aber seine hochgradige Eitelkeit versetzte ihn in einen Zustand fortdauernder Selbstzufriedenheit, und es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, daß sich jemand über ihn lustig machen könne.
    Späterhin wurde er für Delaherche wahrhaft zum Retter. Aber was für jammervolle Tage in dieser ersten Zeit nach der Übergabe! Sedan besetzt, bevölkert von deutschen Soldaten, zitterte in der Furcht vor Plünderung. Dann aber flossen die siegreichen Truppen gegen das Seinetal hin ab, es blieb nur eine Besatzung zurück, und die Stadt verfiel in den Leichenfrieden einer Totenstadt: die Häuser, die Läden

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