Der Zusammenbruch
Hunger mehr; das erste Weißbrot hatte er mit Wonne verzehrt. Das unter Alkohol gesetzte Paris, in dem es nie an Branntwein und Wein gefehlt hatte, lebte jetzt in Völlerei und verfiel in dauernde Betrunkenheit. Aber es war immer noch ein Gefängnis; seine Tore wurden von den Deutschen bewacht, und verwickelte Förmlichkeiten hinderten einen am Verlassen. Das öffentliche Leben hatte noch nicht wieder angefangen, es gab noch keine Arbeit, keine Staatsgeschäfte; das ganze Volk lag hier voller Erwartung in Nichtstun und geriet schließlich im hellen Sonnenschein des auflebenden Frühlings auf falsche Bahnen. Während der Belagerung machte der Militärdienst wenigstens ihnen die Glieder müde und beschäftigte die Köpfe; jetzt dagegen glitt die Bevölkerung bei ihrer Losgelöstheit von der ganzen übrigen Welt mit einem Male in ein Dasein gänzlicher Faulheit hinab. Er bummelte ebenso wie die übrigen vom Morgen bis zum Abend herum und atmete die von allen möglichen sich aus der Menge erhebenden Wahnsinnskeimen vergiftete Luft ein. Die unbeschränkte Freiheit, die man jetzt genoß, zerstörte schließlich alles von Grund auf. Er las Zeitungen, besuchte öffentliche Versammlungen, zuckte wohl auch gelegentlich über zu grobe Eseleien die Achseln und ging schließlich heim, während ihm Gewalttätigkeiten im Gehirn spukten und er zu verzweifelten Handlungen bereit war, um das, was er für Wahrheit und Gerechtigkeit hielt, zu verteidigen. Und in seiner kleinen Kammer, von der aus er über die Stadt hinwegsah, träumte er immer noch von Sieg undsagte sich, man könne Frankreich, die Republik noch retten, solange der Friede noch nicht unterzeichnet sei.
Am 1. März sollten die Preußen in Paris einziehen, und ein langgezogener Schrei des Abscheus und Zornes entrang sich den Herzen aller. Maurice wohnte keiner öffentlichen Versammlung mehr bei, ohne daß er die Gesetzgebende Versammlung, Thiers, die Männer des 4. Septembers anklagen hörte, sie hätten der heldenmütigen Stadt nicht einmal diesen Gipfel der Schande ersparen wollen. Er selbst ließ sich eines Abends so weit hinreißen, das Wort zu ergreifen und hinauszuschreien, ganz Paris müsse eher auf den Wällen sterben, als einen einzigen Preußen einziehen zu lassen. Unter dieser durch die Monate des Hungers und der Sorgen auf falsche Bahnen gelenkten Bevölkerung keimte, seitdem sie nun in eine von Alpdrücken beeinflußte Redseligkeit verfiel und vom Argwohn gegen selbstgeschaffene Gespenster gepeinigt wurde, ganz natürlicherweise der Aufruhr und bereitete sich am helllichten Tage vor. Es war dies einer jener geistigen Wendepunkte, die man immer als Folge großer Belagerungen beobachten kann, wo ein Übermaß an betrogener Vaterlandsliebe sich, nachdem sie die Seelen umsonst entstammt hat, in blinden Drang nach Rache und Zerstörung verwandelt. Der Hauptausschuß, den die Abgeordneten der Nationalgarde gewählt hatten, erhob gegen jeden Versuch einer Entwaffnung Einspruch. Es kam zu einer großen Kundgebung auf dem Bastillenplatz mit roten Fahnen und flammenden Reden, dem Zusammenfluß einer Riesenmenge, dem Mord eines armseligen Polizeibeamten, den man, auf ein Brett gebunden, in einen Kanal geworfen und dann mit Steinwürfen umgebracht hatte. Und zwei Tage später wurde Maurice nachts durch Trommeln und Sturmläuten aufgeweckt, er sah Bandenvon Männern und Weibern Geschütze über den Boulevard des Batignolles ziehen und spannte sich selbst mit einem Haufen anderer vor eins davon, während es um ihn herum hieß, das Volk hätte sich diese Geschütze selbst vom Wagramplatz geholt, damit die Nationalversammlung sie nicht den Preußen auslieferte. Es waren hundertsiebzig, die Bespannungen fehlten, das Volk zog sie in der wilden Begeisterung einer Barbarenhorde, die ihre Götter retten will, an Stricken und schob sie mit den Fäusten bis oben auf den Gipfel des Montmartre. Als die Preußen sich am 1. März damit begnügen mußten, einen Tag lang das Viertel der Champs-Elysees zu besetzen und innerhalb der Schlagbäume wie eine Herde sehr beunruhigter Sieger zu lagern, da rührte Paris sich nicht aus seiner düstern Stimmung; die Straßen lagen verlassen da, die Häuser blieben geschlossen, die ganze Stadt war wie tot, in einen riesigen Trauerschleier eingehüllt.
Zwei weitere Wochen gingen hin, und Maurice wußte gar nicht mehr, wie sein Leben eigentlich in der Erwartung dieses Unendlichen, Ungeheuerlichen, das er kommen fühlte, dahinflösse. Der Friede war
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