Der Zusammenbruch
Forts lag und die Hochebene des Avron geräumt werden mußte, verfiel auch Maurice in die Reizbarkeit, die mit größter Heftigkeit die ganze Stadt erfüllte. Der Sturm wachsenden Mißfallens, der General Trochu und die Regierung der nationalen Verteidigung wegzufegen drohte, wuchs durch sie bis zu einem Punkte, der sie zwang, eine letzte, wenn auch unnütze Anstrengung zu unternehmen. Warum weigerten sie sich, die dreihunderttausend Mann Nationalgarden ins Feuer zu führen, die sich immer wieder anboten und ihren Anteil an der Gefahr verlangten? Das war der Ausfall wie ein Bergstrom, den sie schon seit dem ersten Tage forderten, bei dem Paris seine Deiche zerbrach und die Preußen unter der riesigen Flut seiner Bevölkerung ertränkte. Diesem Gelübde von Tapferkeit mußten sie wohl trotz der Gewißheit einer neuen Niederlage nachgeben; um aber das Gemetzel einzuschränken, begnügten sie sich damit, neben der aktiven Truppe die neunundfünfzig Bataillone der mobilisierten Nationalgarde dazu zu verwenden. Und am Abend vor dem 19. Januar war es wie vor einem Fest: eine gewaltige Menschenmenge sah auf den Boulevards und in den Champs-Elysées die Regimenter vorüberziehen, die mit Musik an der Spitze vaterländische Lieder sangen. Kinder und Frauen liefen nebenher, Männer stiegen auf die Bänke, um ihnen flammende Siegeswünsche zuzurufen. Am folgenden Tage wälzte sich dann die ganze Menge nach dem Triumphbogen hin; eine verrückte Hoffnung packte sie, als am Morgen die Nachricht von der Einnahme von Montretout eintraf. Erzählungen wie Heldengedichte liefen umher über den unwiderstehlichen Schwung der Nationalgarden;die Preußen wären einfach über den Haufen gerannt, vor Abend noch würde Versailles genommen sein. Und dann die Bestürzung, als mit sinkender Nacht der unvermeidliche Gegenstoß bekannt wurde. Während die linke Kolonne Montretout besetzte, brach die mittlere, die die Parkmauer von Buzenval durchbrochen hatte, vor einer zweiten, inneren in sich zusammen. Es war Tauwetter eingetreten; ein feiner, anhaltender Regen hatte alle Wege durchweicht, und die Geschütze, die mit Hilfe allgemeiner Unterstützung gegossen waren, in die Paris seine ganze Seele dahingegeben hatte, die konnten nicht kommen. Rechts blieb die Abteilung General Ducrots, die zu spät eingesetzt war, im Rückstand. Sie waren am Ende ihrer Kräfte, General Trochu mußte den Befehl zum allgemeinen Rückzug geben. Sie gaben Montretout auf, sie gaben Saint-Cloud auf, das die Preußen in Brand steckten. Und als es dunkle Nacht wurde, war am Horizont von Paris nichts mehr zu sehen als diese gewaltige Feuersbrunst.
Jetzt fühlte Maurice selbst, dies bedeute das Ende. Er hatte unter dem schrecklichen Feuer der preußischen Befestigungen vier Stunden lang mit den Nationalgarden im Park von Buzenval gelegen; und nachdem er wieder hereingekommen war, lobte er in den folgenden Tagen ihren Mut aufs höchste. Die Nationalgarde hatte sich in der Tat tapfer gehalten. War also nicht notwendigerweise die Niederlage auf die Torheit und den Verrat der Führer zurückzuführen? In der Rue de Rivoli traf er auf Ansammlungen, die: »Nieder mit Trochu! Hoch die Kommune!« riefen. Das bedeutete das Erwachen der Leidenschaften des Umsturzes, den Trieb einer neuen, derart beunruhigenden Auffassung, daß die Regierung der nationalen Verteidigung, um nicht von ihm weggefegtzu werden, den General Trochu zwingen zu müssen glaubte, zurückzutreten, und ihn durch General Vinoy ersetzte. Maurice hörte an diesem Tage auch in einer öffentlichen Versammlung in Belleville, in die er hineinging, abermals den Massenangriff fordern. Der Gedanke war verrückt, das wußte er, und trotzdem klopfte ihm das Herz, angesichts dieser Hartnäckigkeit zu siegen. Wenn alles zu Ende ist, darf man dann nicht noch auf ein Wunder hoffen? Die ganze Nacht träumte er von Wunderdingen.
Weder verliefen acht lange Tage. Paris lag im Todeskampf ohne Klage da. Läden wurden nicht mehr geöffnet; die wenigen Fußgänger trafen in den verlassenen Straßen auf kein Fuhrwerk mehr. Vierzigtausend Pferde waren schon aufgezehrt; es war soweit gekommen, daß Hunde, Katzen und Ratten teuer bezahlt wurden. Seit es an Getreide fehlte, war das aus Reis und Hafer hergestellte Schwarzbrot ganz klitschig und schwer zu verdauen; und um die einem nach der Verteilung zustehenden dreihundert Gramm zu erhalten, wurde das Warten in Reihen vor den Bäckerläden rein tödlich. Ach! Diese schmerzlichen Zeiten der
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