Der Zwang zur Serie. Serienmörder ohne Maske.
alle sind religiöse Gebote und moralische Grundsätze nur ein Ballast. Diebstahl, Raub und Mord werden für die Hoffnungslosen ein natürliches Mittel, um zu überleben. Die britische Nation, schrieb Friedrich Engels damals nach seinem ersten Aufenthalt in England, sei die verbrecherischste der Welt geworden. Beide, Hare wie Burke, waren Iren und suchten sich in Schottland als Arbeiter durchzuschlagen. Beide waren dem Alkohol verfallen, dem letzten Trost eines sinnentleerten Lebens. Wurde das eigene Leben schon als minderwertig empfunden, wieviel weniger noch galt ein fremdes anonymes im Hexenkessel der großen Städte. Und nun spielte ihnen der Zufall eine Leiche in die Hände. Und sie wußten – was damals jeder wußte –, die Leiche ist eine Ware, ihr Verkauf bringt mehr ein als zwei Monatslöhne eines Hafenarbeiters. Und solange veraltete Gesetze das Angebot dieser Ware niedrig hielten und die Nachfrage hoch, waren die Anatomen auch bereit, den entsprechenden Preis zu zahlen – hing doch ihr berufliches Ansehen vom Erwerb dieser Ware ab. Der Anreiz für demoralisierte Existenzen am Rande der kapitalistischen Gesellschaft war gegeben, eine solche gewinnbringende Ware zu produzieren. Burkes und Hares Serienmorde waren die Konsequenz dieser Verlockung.
Das geschah vor 170 Jahren. Heutzutage stellen sich den Pathologen Hemmnisse anderer Art entgegen. Kürzlich berichtete dpa über die 80. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Pathologie in Dresden: »Die deutschen Pathologen dürfen immer seltener obduzieren. Eine Obduktion sei laut Bestattungsgesetz nur noch mit Einwilligung der Angehörigen des Verstorbenen möglich, sagte Professor Martin Müller, Direktor des Instituts für Pathologie am Dresdner Universitätsklinikum. ›Die rechtlichen Grundlagen in der DDR
haben uns einen größeren Spielraum gelassen‹, sagte Müller. Wenn die Obduktionszahlen weiter abnehmen, sei die Behandlungsqualität in den Kliniken und Praxen gefährdet. ›Wichtige Erkenntnisse bleiben uns verschlossen‹, erklärte der Mediziner.«
Privatkrematorium
Am Eingang seiner Pariser Praxis in der Rue Caumartin hängt das Schild: DR. MARCEL PETIOT, RADIOTHERAPIEN.
Auch heute, an einem naßkalten Dezembertag des Jahres 1940, drängen sich in Petiots Wartezimmer die Patienten. Sie alle, mit den unterschiedlichsten Leiden, erhoffen sich Hilfe von Dr. Petiots Strahlentherapie. Ihr Vertrauen in Petiots Apparate, die Licht und Wärme auf Geschwülste, rheumatische Gelenke, Wunden und Ekzeme verbreiten, ist unbegrenzt. Man weiß auch, Petiot besitzt zugleich die ehrenhafte Funktion eines Amtsarztes. Das verschafft ihm unter den Patienten zusätzliche Autorität.
Und Petiot selbst weiß, was er an seinen Patienten hat. Allein im vergangenen Jahr nahm er eine halbe Million Francs an Honorar ein. Und auch in diesem Jahr wird er dieselbe Summe verbuchen können.
Der große dunkelhaarige Arzt schaltet einen Lichtkasten aus, der die Knie eines alten Mannes bestrahlt hat, und verabschiedet den Patienten. Es ist Zeit für eine Kaffeepause. Er gießt sich aus der Thermoskanne eine Tasse ein, tritt ans Fenster und blickt in den Regen hinaus. Der Kaffee tut ihm wohl. Kaffee ist kostbar geworden, seit die deutsche Wehrmacht im Sommer Paris besetzt hat. Aber es gibt immer Patienten, die Beziehungen haben und ihren Doktor mit Liebesgaben versorgen. Ärzten geht es auch in schweren Zeiten gut, denkt Petiot zufrieden.
Auf der Straße, vor einem Haus gegenüber, scheint sich etwas Ungewöhnliches vorzubereiten. Einige Passanten sind an der Villa des Professors Cohen stehengeblieben.
Petiot öffnet das regenblinde Fenster. Vor Cohens Haus hält ein Wagen mit deutschem Kennzeichen. In diesem Augenblick verlassen zwei Männer in Ledermänteln das Haus, zwischen ihnen der alte jüdische Professor. Er hat ein Köfferchen in der Hand, als wolle er verreisen. Die Gestapoleute führen ihn zum Wagen und fahren mit ihm davon. Wohin die Fahrt geht, weiß jeder in Paris: in die Deportation. Und manche flüstern sogar, niemand werde jemals wieder von dort zurückkehren. Fern im Osten gäbe es Todeslager.
C'est la guerre, denkt Petiot, Gott sei gedankt, mich trifft es nicht. Er öffnet die Tür zum Wartezimmer. »Der Nächste!«
Am Abend verläßt Petiot die Praxisräume und geht in seine danebenliegende Wohnung. Er bereitet sich ein karges Mahl, zur Zeit ist er allein, seine Frau ist bei seinem Bruder in der Provinz zu Besuch. Dort, in Villeneuve, ist der
Weitere Kostenlose Bücher