Der Zwang zur Serie. Serienmörder ohne Maske.
in den Abortgruben liegen? Soll er die Toten wieder zerstückeln und wie damals die Leichenpakete irgendwo verstreuen? Zu aufwendig und zu gefährlich. Er muß eine rationellere Methode ersinnen. Schließlich kommt er auf den Einfall, Löschkalk über die Leichen zu schütten. Der entzieht dem Gewebe die Flüssigkeit, die Körper trocknen aus und lassen sich dann wie Holz in den großen Heizungsöfen verbrennen.
Aber woher im fünften Kriegsjahr Kalk für die Leichengruben und Koks für die Öfen besorgen? Ein Arzt hat seine Verbindungen, die helfen ihm auch jetzt weiter. Bald türmen sich Berge von Kalk und Koks im Hof.
Petiot geht an die Arbeit. Er schaufelt und schaufelt und trägt die Berge ab, fährt mit der Schubkarre den Koks in den Heizungskeller und verbringt den Löschkalk in den Stall, schüttet ihn auf die Leichen. Aber auch der Kalk braucht seine Zeit. Erst am Ende der ersten Märzwoche scheinen die Körper für die Verbrennung vorbereitet zu sein. Wieder hebt der Flaschenzug die schweren Deckel über den Leichengruben empor. Petiot schützt sich mit einer Gasmaske und Gummihandschuhen gegen den ätzenden Kalk. Mit Hilfe einer Leiter steigt er in die Gruben hinab, befestigt die starren Körper am Flaschenzug, windet sie heraus und zerkleinert sie mit Axt und Säge. Manche Gliedmaßen sind bereits skelettiert. Arme, Beine, Schädel, Rumpfteile schichtet er an den Stallwänden auf und transportiert sie nach Bedarf schubweise in den Heizungskeller im Haus.
Die beiden Öfen brennen Tag und Nacht und strahlen unerträgliche Glut aus. Schweißgebadet beschickt Petiot sie mit den ausgetrockneten Leichenteilen. Und muß feststellen, daß nicht nur der Kalk, sondern auch das Feuer seine Zeit braucht zur Zerstörung. Die Knochen, vor allem die Schädel, sind erst nach vielen Stunden verglüht und zu Asche zerfallen. Auch wenn ihm diese Komplikation noch mehr Anstrengung abfordert, bleibt Petiot gelassen.
Er hat bisher Glück gehabt, es wird auch weiter gut gehen. Nur eines bereitet ihm etwas Sorge: der fettige schwarze Rauch, der aus seinem Privatkrematorium durch den Schornstein steigt und sich in eklen Flocken überall niederläßt.
Bald erweist sich diese Sorge als berechtigt. In seinem Bemühen, bis Ende März die Leichen zu beseitigen, dehnt Petiot seine nächtliche Schichtarbeit nun auch auf die Vormittagsstunden aus. An einem Samstag nachmittag – es ist der 11. März 1944 – verläßt Petiot das Grundstück mit dem Fahrrad, um einige Besorgungen zu erledigen.
Die Zentralheizungsöfen sind voll beschickt, der Schornstein speit dicke Rauchwolken aus.
Nach zwei Stunden kehrt Petiot zurück. Entsetzt springt er vom Fahrrad. Vor dem offenen Tor seines Hauses steht ein Löschzug der Feuerwehr. Auf dem Hof laufen Polizisten aufgeregt hin und her. Einige Nachbarn und Passanten sehen neugierig dem Treiben zu.
In diesem Augenblick weiß Petiot: es ist alles entdeckt Jetzt heißt es Ruhe bewahren. Auch vor der Gestapo war er kaltblütig geblieben.
Er lehnt das Fahrrad ans Tor und tritt zur Nachbarin, die ihm vor Wochen die Beschlagnahme des Hauses durch die Wehrmacht mitgeteilt hatte. Was ist denn hier los? fragt Petiot. Die Nachbarin berichtet, jemand habe die Feuerwehr alarmiert, weil der starke Rauch einen Brand vermuten ließ. Und die vielen Polizisten? Das weiß sich die Nachbarin auch nicht zu erklären.
Petiot geht auf das Haus zu. Am Eingang versperrt ihm ein Polizist den Weg. Petiot sagt, er sei ein Verwandter des Hauseigentümers. Der Polizist läßt ihn passieren. Petiot steigt in den Heizungskeller hinunter. Noch immer glühen die Öfen. Daneben gestapelt der Nachschub: Schädel, Arme, Beine. An der Wand lehnen totenblaß drei Polizisten. Sie starren Petiot an. Vielleicht halten sie ihn für einen Kriminalbeamten.
Petiot fragt: »Seid ihr Patrioten?«
Das Wort wirkt magisch. In dieser Endzeit will man gern ein guter Patriot sein. Die Polizisten nicken, sie sind gute Patrioten.
»Dann will ich euch ein Geheimnis verraten.« Petiot weist auf die Leichenteile. »Das waren Deutsche. Nazis! Und Kollaborateure! Hingerichtet alle von der Resistance!«
Resistance – auch das ein magisches Wort. Wer will sich jetzt noch gegen die Resistance stellen! Die Polizisten nehmen Petiots Mitteilung erschreckt und stumm zur Kenntnis. C'est la guerre. . .
Petiot legt den Zeigefinger an die Lippen. Wendet sich um und verläßt ungehindert das Haus. Er weiß, jetzt muß er untertauchen. Bei einem Bekannten
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