Der zweite Gral
anderen abzulenken, würden Emmet und Lara im Westteil, in unmittelbarer Nähe des eigentlichen Palastgebäudes, ein wohl kalkuliertes Chaos anrichten. Die Zeit seit Einbruch der Nacht hatten die beiden damit zugebracht, die Außenkameras auszutricksen und Sprengladungen an strategisch günstigen Stellen anzubringen. Wenn man bedachte, dass sie nur wenige Stunden zur Verfugung gehabt hatten, war Emmet mit sich und seinem Plan überaus zufrieden.
Sorgen bereitete ihm nur, dass der Countdown fast schon abgelaufen war und Reyhan Abdallah noch immer nirgends zu sehen war.
»Beeilung!«, keuchte Reyhan. »Dort vorn ist es!«
Nangala hielt nur mühsam mit ihr Schritt. Das Gewehr inseinen Händen fühlte sich so schwer an, als wäre es aus Blei. Seine Beine waren steif und ungelenk. Er fühlte sich wie nach einem Zwölf-Runden-Boxkampf.
Sie erreichten eine Tür mit der Aufschrift »U12«. Hastig steckte Reyhan den Schlüssel ins Schloss. Doch noch bevor sie ihn umdrehen konnte, stieß eine herrische Stimme hinter ihnen einen scharfen Befehl aus. Nangala verstand nicht, bemerkte aber, dass Reyhan mitten in der Bewegung erstarrte. Er selbst wagte ebenfalls nicht mehr, sich zu rühren.
Wieder befahl die Stimme etwas.
»Wir sollen uns umdrehen«, raunte Reyhan. »Langsam!«
Sie gehorchten. Vor ihnen stand ein junger Araber, höchstens achtzehn oder zwanzig Jahre alt, das Gewehr im Anschlag. Schon erteilte er den nächsten Befehl.
Reyhan übersetzte. »Legen Sie die Waffe weg. Und machen Sie um Himmels willen keine falsche Bewegung.«
Nangala gehorchte. Wie in Zeitlupe ging er in die Knie und setzte sein Gewehr auf dem Boden ab. Als er wieder stand, sah er, dass Reyhan die Hände erhoben hatte. Er folgte ihrem Beispiel.
»Und was jetzt?«, flüsterte er.
Eine Minute nach eins, und noch immer war niemand im Palastgarten zu sehen. Emmets Nervosität war kaum mehr zu ertragen. Er konnte per Fernbedienung das schönste Feuerwerk inszenieren, das diese Stadt je gesehen hatte, doch er zögerte. Solange Reyhan, Anthony und die Sudanesen den Garten noch nicht erreicht hatten, war es zu gefährlich, die Explosionen auszulösen, denn selbst ein erfahrener Mann wie Emmet konnte nicht genau vorhersagen, welchen Schaden sie anrichten würden.
»Kannst du sie sehen?«, raunte er ins Mikrofon seines Headsets.
»Leider nein.« Laras Stimme kam klar und deutlich über dieMini-Ohrhörer. Sie hatte auf der gegenüberliegenden Seite des Palasts Stellung bezogen, unweit der Nordmauer, weil sie von dort einen anderen Teil des Palastgeländes überblicken konnte.
»Irgendwas ist schief gelaufen«, sagte Emmet.
»Das glaube ich auch.«
»Ich werde reingehen.«
Kurze Pause. »Okay.«
»Gib mir noch zwei Minuten. Dann jag den Wagen in die Luft.« Damit meinte er einen Kleintransporter, der gut fünfzig Meter vom Palast entfernt am Straßenrand parkte. Emmet hatte unter dem Benzintank nur eine kleine Sprengladung angebracht. Der Transporter sollte keinen Schaden anrichten, sondern nur Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
»Zwei Minuten – ab jetzt«, sagte Lara.
Emmet schulterte seinen Rucksack und griff nach der Armbrust. Dann kletterte er so schnell er konnte vom Dach des Hauses und huschte zur anderen Straßenseite hinüber. Ein Blick auf die Uhr. Noch eine halbe Minute. Genügend Zeit. Er atmete tief durch und spürte, dass sein Herz wieder zu stechen begann.
Alles, nur das nicht!, dachte er. Ich kann mir jetzt keinen Anfall erlauben.
Er ignorierte das Ziehen im Oberkörper und kramte aus seinem Rucksack ein Seil, an dessen Ende ein Kletterhaken befestigt war. Er legte den Haken in die Armbrust ein, spannte die Sehne und zielte über die Zinne der Palastmauer. Genau eine Sekunde, bevor Lara die Explosion auslöste, drückte Emmet den Abzug. Das Seil surrte über die Mauer, der Haken schlug gegen Stein und verkeilte sich. Doch das scheppernde Geräusch wurde vom Dröhnen der Detonation übertönt.
Der junge Wachmann war vom Knall und der plötzlichen Erschütterung so überrascht, dass er einen Moment lang unaufmerksam wurde und sich verdutzt umsah. Anthony Nangala ergriff seine Chance und warf sich ohne zu zögern auf ihn. Wäre er besser in Form gewesen, hätte er den schmächtigen Bengel mit nur einem Schlag in Tiefschlaf versetzt. So jedoch entspann sich ein Kampf. Die beiden Männer fielen um und wälzten sich am Boden. Harte Schläge trafen Nangala in die Nierengegend. Zu allem Überfluss spürte er den Gewehrlauf am
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