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Der zweite Gral

Der zweite Gral

Titel: Der zweite Gral Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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nicht. Dann werden noch viel mehr Menschen sterben. Schon heute Nacht!«
    Nangala biss die Zähne zusammen. Reyhan sah, wie seine Wangenmuskeln arbeiteten. Sie wünschte sich, ihm irgendetwas Tröstliches sagen zu können, aber ihr fiel nichts ein.
    »Ich werde ebenfalls bald sterben«, murmelte sie und hielt noch immer seine Hand. »Ich habe Aids. Auch meine letzte Hoffnung ist diese Therapie, auch wenn diese Hoffnung verschwindend gering ist. Aber ich habe gesehen, was DoktorGoldmann getan hat, um an sein Ziel zu gelangen. Er geht über Leichen, im wahrsten Sinne des Wortes. Wir müssen die entführten Menschen aus dem Sudan retten!«
    Nangala starrte immer noch mit leerem Blick an die Zimmerdecke.
    Reyhan sah auf ihre Uhr. »Helfen Sie mir, oder helfen Sie mir nicht? Sie müssen sich entscheiden, Anthony. Wir haben nicht mehr viel Zeit. In ein paar Minuten müssen wir abmarschbereit sein.«
    Sie spürte, dass sich in dem Mann etwas regte. Dass sie seine Seele berührt, ihn wachgerüttelt hatte. »Bitte . .. helfen Sie mir!«, beschwor sie ihn noch einmal.
    Endlose Sekunden verstrichen. Dann drehte Anthony Nangala ihr sein Gesicht zu und blickte ihr in die Augen. »Worauf warten Sie noch?«, sagte er. »Nehmen Sie mir endlich die verdammten Fesseln ab.«
    Das Herabsetzen der Körpertemperatur und die künstlich herbeigeführte akute Vireninfektion machten Anthony Nangala mehr zu schaffen, als er es im Liegen gemerkt hatte. Jetzt, da er zum ersten Mal seit Tagen wieder auf eigenen Beinen stand, spürte er die Mattheit und Schwäche in jedem Knochen. Doch er wusste, dass er sich im Moment keine Schwäche erlauben konnte. Also biss er die Zähne zusammen.
    Du warst einmal Schwergewichtschamp!, schrie eine innere Stimme ihm zu. Du warst der »schwarze Tornado«! Zeig den Mistkerlen, dass du es noch immer draufhast! Und wenn du dich noch so schlapp fühlst – du musst durchhalten! Du schaffst es, du darfst nur nicht aufgeben!
    »Wie geht’s jetzt weiter?«, fragte er, während er sich die Handgelenke rieb.
    »Als Erstes sollten Sie sich etwas anderes anziehen«, entgegnete Reyhan und hielt ihm die Plastiktüte hin. »Die Sachen sind von meinem Mann. Ich hoffe, sie passen Ihnen.«
    Rasch schlüpfte Nangala in Jeans und T-Shirt. Beides passte erstaunlich gut. Sogar die Schuhe saßen wie angegossen.
    »Als Erstes müssen wir in den Schlüsselraum«, sagte Reyhan und öffnete die Tür. Vorsichtig lugte sie in den Flur. »Die Luft ist rein. Kommen Sie!«
    Nangala folgte ihr durch das unterirdische Labyrinth. Er hatte längst die Orientierung verloren, als Reyhan in eine Kammer schlüpfte, die an eine Wachstube erinnerte: zwei Überwachungsmonitore, ein Telefon, ein vergitterter Waffenschrank. Am Tisch saß ein Gorilla von einem Mann mit einem Pistolenhalfter am Gürtel. Er zwinkerte Reyhan vieldeutig zu. Als er Nangala erkannte, zwinkerte er nicht mehr.
    »Reyhan ... was machst du mit dem Gefangenen ...?«
    Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment jagte die Frau ihm eine Spritze in die Schulter. Noch bevor er sich aus seinem Stuhl erheben konnte, sank er schlaff in sich zusammen.
    »Der ist vorerst außer Gefecht«, murmelte sie.
    Der Schlüsselkasten war nichts weiter als eine Blechbox an der Wand. Anthony Nangala hatte keine Schwierigkeiten, ihn aufzubrechen. Offenbar rechnete man in diesem Forschungslabor nur mit drohender Gefahr von außen, nicht aber mit Feinden in den eigenen Reihen.
    »U12 und U33!«, sagte Reyhan. »Das sind die Schlüssel, die wir brauchen. In U12 sind die Sudanesen untergebracht. In U33 wird mein Sohn festgehalten.«
    Sie wollte schon wieder zum Flur eilen, als Nangala sie zurückhielt. Mit Blick auf den Waffenschrank fragte er: »Und welcher Schlüssel passt dafür?«
    Als sie die Wachstube verließen, zeigte die Wanduhr drei Minuten vor eins.

55.
    E mmet lag flach auf dem Dach eines dreistöckigen Hauses, versteckt hinter einem aufragenden Schornstein. Durch sein Nachtsichtgerät beobachtete er das Geschehen auf der anderen Straßenseite. Dort befand sich das Palastgelände. Leider war die Mauer so hoch, dass Emmet nur einen Teil der ausgedehnten Gartenanlage erkennen konnte, doch weit und breit gab es keinen besseren Aussichtspunkt. Immerhin konnte er von hier aus den Hinterausgang des Palasts sehen. Hier sollte Reyhan Abdallah jeden Moment mit den Gefangenen erscheinen, um sich mit ihnen quer durch den Garten zur Ostmauer durchzuschlagen. Um die Aufmerksamkeit der Wachen von Reyhan und den

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