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Der zweite Gral

Der zweite Gral

Titel: Der zweite Gral Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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Rippenbogen. Er wusste, dass eine einzige Kugel ihn töten konnte. Mit aller Kraft packte er die Waffe, um sie von sich wegzudrehen. In diesem Augenblick löste sich ein Schuss.
    Reyhan Abdallah zuckte zusammen. Eine Sekunde lang schien der Kampf der beiden Männer wie eingefroren, und sie war sicher, dass Anthony Nangala getroffen worden war. Dann aber stellte sie erleichtert fest, dass sie sich irrte. Nangala bekam jetzt sogar die Oberhand. Es gelang ihm, den Wachmann zu entwaffnen und ihm einen wuchtigen Fausthieb gegen die Schläfe zu versetzen, sodass der Bursche zu Boden geschleudert wurde und reglos liegen blieb.
    Schwer atmend griff Nangala nach seinem Gewehr und rappelte sich auf. Reyhan sah ihm an, dass er eine Verschnaufpause benötigte; sie wusste aber auch, dass dafür keine Zeit blieb. Der Schuss war bestimmt nicht unbemerkt geblieben.
    Rasch öffnete sie die Tür. Tatsächlich war U12 die Gefangenenzelle. Knapp zwei Dutzend Menschen waren hier auf engstem Raum zusammengepfercht – Kinder, schwangere Frauen, Greise. Aus tiefschwarzen Gesichtern blickten sie Reyhan ängstlich und verzweifelt an.
    »Haben Sie keine Angst«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Kommen Sie.« Da Reyhan wusste, dass die Leute sie nicht verstehen konnten, winkte sie sie mit einer Handbewegung herbei. »Kommen Sie! Schnell!«
    Ein alter Mann erhob sich und sprach zu ihr.
    »Was sagt er?«, fragte Nangala.
    »Keine Ahnung.« Wieder forderte sie die Leute mit einer Handbewegung auf, ihre Zelle zu verlassen. Diesmal begriffen sie.
    Im Gang standen mittlerweile mehrere Labormitarbeiter und sprachen aufgeregt miteinander. Außerdem hörte Reyhan das dumpfe Getrampel von Stiefeln. Das Geräusch näherte sich rasch.
    »Wachmänner!«, stellte Reyhan fest und bemerkte, dass sie vor Aufregung zitterte. Sie hatte Anthony Nangala und die Sudanesen befreit, doch ihr Sohn fehlte noch. Ohne ihn würde sie diesen Palast nicht verlassen. »In diese Richtung!«, rief sie und zeigte den Gang entlang. »Mir nach! Beeilung!« Sie rannte voraus, die anderen folgten ihr.
    Hinter ihnen fielen Schüsse. Labormitarbeiter kreischten und warfen sich zu Boden oder flüchteten in irgendwelche Zimmer. Reyhan riskierte einen Blick über die Schulter. Sie sah einen fünfköpfigen Wachtrupp am anderen Ende des Flurs. Wieder krachten Schüsse. Einen Meter neben ihr spritzte Putz von der Wand.
    Sie werden uns alle umbringen!, schoss es ihr entsetzt durch den Kopf.
    Doch ein weiterer Blick nach hinten ließ sie neue Hoffnung schöpfen. Anthony Nangala gab ihnen Rückendeckung. Er hatte sich flach auf den Boden geworfen und eröffnete nun ebenfalls das Feuer. Zwei Wachmänner stürzten zusammengekrümmt zur Seite, die drei anderen zogen sich hinter die nächste Ecke zurück.
    Das verschaffte den Fliehenden ein paar Sekunden Vorsprung. Reyhan stieß eine Glastür auf und rannte in den nächsten Labortrakt. Hier befand sich die Kammer, in der ihr Sohn eingesperrt war. Sie betete zu Allah, dass Goldmann ihn nicht in ein anderes Zimmer hatte verlegen lassen.
    Lautlos huschte Emmet durch den Palastgarten. Im Schatten der Bäume und der übermannshohen Ziersträucher verschmolz er mit der Nacht. Das Ablenkungsmanöver – die Sprengung des Kleinlasters – hatte funktioniert. Bislang war Emmets Vorstoß unbemerkt geblieben.
    Mittlerweile aber konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der Wachposten nicht mehr auf das brennende Auto vor dem Palast, sondern auf das, was im Gebäude vor sich ging. Kein gutes Zeichen.
    »Wir brauchen noch mehr Knalleffekte«, raunte Emmet in sein Mikro.
    »Verstanden«, sagte Lara. Beinahe im selben Augenblick erschütterten weitere Detonationen die Erde. Emmet sah, wie mehrere Feuerpilze in den sternenklaren Himmel stoben.
    »Das reicht fürs Erste«, sagte er. »Ich melde mich später wieder.«
    Die Rückseite des Palasts war jetzt völlig verwaist. Die wenigen Männer, die den Garten überwacht hatten, waren auf die Finte hereingefallen und zu den Explosionsherden geeilt. Emmet fragte sich, wie lange es dauern würde, bis sie den Braten rochen.
    Vorsichtig schlich er über die Terrasse. Hinter der breiten Fensterfront brannte kein Licht. Emmet wusste, dass die Terrassentür zu einer Art Festsaal führte. Er hatte die Architektenpläne so lange studiert, dass er sich im Palast blind auskannte, ohne jemals darin gewesen zu sein.
    »Noch ein Kanonenschlag, bitte«, flüsterte er. »Auf drei. Eins ... zwei ...« Bei drei krachte die nächste

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