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Der zweite Gral

Der zweite Gral

Titel: Der zweite Gral Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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vor ihr liegende Nacht verlaufen würde, schlug ihr das Herz bis zum Halse. Außerdem brachte sie die Sorge um ihren kleinen Jungen schier umden Verstand. Aber sie kämpfte ihre Ängste tapfer nieder, indem sie sich sagte, dass sie das einzig Richtige tat.
    Während sie mechanisch ihre Arbeiten erledigte, ging sie in Gedanken immer wieder den Zeitplan durch. In knapp fünf Stunden würde im Palast ein wahres Feuerwerk ausbrechen. Bis dahin musste sie noch einiges herausfinden. Dass ihr Sohn in der Kammer neben Goldmanns Büro eingesperrt war, wusste sie. Aber sie hatte keine Ahnung, wo Anthony Nangala und die Sudanesen untergebracht worden waren. Sie würde nach ihnen suchen müssen.
    Um halb zehn meldete sie sich zu einer Kaffeepause ab. In Wahrheit aber spionierte sie ein wenig herum. Da alle anderen mit den Vorbereitungen für den morgigen Eingriff beschäftigt waren, lagen die Gänge wie verlassen vor ihr. Reyhan konnte sich ungehindert umschauen. Dennoch durfte sie sich nicht zu viel Zeit lassen, sonst würde jemand sie bald vermissen und Verdacht schöpfen.
    Als Erstes nahm sie sich die Räume im Osttrakt vor. Sie erinnerte sich, dass hier früher die Versuchstiere untergebracht gewesen waren. Doch seit sie wieder arbeitete, hatte sie kaum einen Fuß in diesen Gebäudeteil gesetzt. Sie eilte zum Ende des Gangs und öffnete eine Tür. Sie war unverschlossen, wie die meisten Türen im Laborbereich. Der Palast war so gut gesichert, dass man hier unten auf zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen verzichtete.
    Reyhan bot sich ein vertrauter Anblick: ein Forschungsraum, schier überladen mit gläsernen Vitrinen, in denen tausende von Zuchtmäusen umherwuselten. Das Fiepen der Tiere klang wie Vogelgezwitscher. Trotz strenger Hygienevorschriften roch es nach Kot und Urin.
    Das nächste Zimmer zeigte ein ähnliches Bild, nur waren die Versuchstiere in diesem Fall Ratten. Noch ein Zimmer weiter stieß Reyhan auf mehrere mit Stroh ausgelegte Gehege, in denen Ziegen und Schafe gehalten wurden.
    Danach folgten drei Räume mit Schimpansen. Die meisten Tiere lagen betäubt in ihren Käfigen. Aus ihren Köpfen führten Elektroden zu irgendwelchen Messgeräten. Surrende Computer werteten Daten aus. Reyhan riss sich von dem Mitleid erregenden Bild los. Arme Kreaturen, dachte sie.
    Doch der schlimmste Anblick stand ihr noch bevor: Auf der anderen Seite des Gangs befanden sich keine Versuchsräume für Tiere, sondern ein großer Saal, der sie an ein Lazarett erinnerte. Nein, eher an eine große Intensivstation. In mindestens zwanzig Betten lagen Greise, Frauen und Kinder – reglos, wie tot, gespickt mit Infusionsschläuchen und allesamt angeschlossen an eine ganze Batterie von lebenserhaltenden Systemen. Irritiert, aber auch neugierig trat Reyhan näher an eines der Betten heran. Ein Mädchen lag darin, keine zehn Jahre alt. Ihre Augen waren geschlossen. Ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig, diktiert vom Takt des Blasebalgs im gläsernen Tubus der Herz-Lungen-Maschine.
    Reyhan betrachtete das friedlich wirkende kleine Engelsgesicht. Dann setzte sie sich an den Rand des Betts und verspürte das unwiderstehliche Verlangen, diesem unschuldigen Geschöpf ein wenig Zärtlichkeit zu schenken. Vorsichtig berührte sie die Hand des Kindes – und schrak unweigerlich zusammen. Sein Arm war fleckig und aufgedunsen, die Finger von entstellenden Beulen übersät. Reyhan biss sich auf die Unterlippe. Sie musste sich beherrschen, um nicht in Tränen auszubrechen.
    Auf unsicheren Beinen stand sie auf, um den nächsten Patienten zu begutachten, einen schwarzhäutigen Mann im hohen Alter. Seine Arme waren ebenfalls verunstaltet, zudem bedeckten mehrere kartoffelförmige Geschwülste sein Gesicht. Eins über dem linken Auge, eins am Wangenknochen und eins am Kinn. Die Frau im Bett daneben sah kaum besser aus. Reyhan presste die Hand vor den Mund und taumelte wie benommen rückwärts zur Tür. Dort stieß sie beinahe mit MustilMassuf zusammen, dem Kollegen, dessen Tochter am Hutchinson-Guilford-Syndrom erkrankt war.
    »Bei Allah, hast du mich erschreckt!«, sagte er.
    »Du mich aber auch«, murmelte Reyhan, noch immer wie in einer Schreckenstrance. »Was ... was ist mit diesen Menschen los?«
    Mustil berührte sie vorsichtig an den Schultern. »Doktor Goldmann hat dich offenbar immer noch nicht über alles aufgeklärt, was wir hier tun?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Na ja, irgendwann musst du es ja erfahren, warum also nicht jetzt«, sagte Mustil. Er

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